Trotz des schweren Reitermantels schlotterte Cathérine vor Kälte, als sie dem Turm zuschritt, den Cabriac bezeichnet hatte. Dieser erwartete sie im Innern, mit den Füßen stampfend und sich die Seiten schlagend, um gegen die Kälte anzugehen. Das niedrige, feuchte Gewölbe war wie mit einem Mantel aus schwärzlichem, glänzendem Eis überzogen, von dem Brocken auf ihre Schultern herabfielen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Cabriac. »Der Mond wird bald aufgehen, und Ihr werdet auf der Schneefläche unten wie am hellichten Tag zu sehen sein. Der Kastilier hat sicher überall Wächter aufgestellt.«
»Aber«, wandte Cathérine ein, »wie sollen wir durch die Palisaden kommen, die am Felsen entlanglaufen?«
»Das geht mich an«, sagte Gauthier. »Kommt, Dame Cathérine. Der Herr Seneschall hat recht. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«
Er nahm schon ihren Arm, um sie in das schwarze Loch der Treppe zu ziehen, das Cabriac, eine unter fauligem Stroh verborgene Falltür hebend, freigelegt hatte. Aber Cathérine sträubte sich, drehte sich zu Kennedy um und reichte ihm spontan die Hand.
»Vielen, vielen Dank für alles, Messire Hugh. Dank für Eure Liebenswürdigkeit, für den Schutz, den ihr mir gegeben habt. Ich werde die hier verbrachten Tage nie vergessen. Dank Euch … haben sie ein wenig von ihrer Grausamkeit verloren. Und ich hoffe, Euch bald bei Königin Yolande wiederzusehen.«
Im unsicheren Licht der Laterne sah sie das große Gesicht des Schotten aufleuchten und seine weißen Zähne blitzen.
»Wenn's nur von mir abhängt, Dame Cathérine, wird's schon in kurzer Zeit sein. Aber niemand weiß, was morgen in seinem Leben sein wird. Wie es so oft in dieser Welt geht, sehe ich Euch vielleicht niemals wieder …«
Seinen Satz in der Schwebe lassend, packte er die junge Frau an den Schultern, drückte sie an sich, küßte sie gierig, ehe sie, völlig verblüfft, sich verteidigen konnte, ließ sie ebenso rasch wieder los, lachte dann schallend wie ein Kind auf, das sich einen schönen Spaß gemacht hat, und beendete den angefangenen Satz:
»… und werde nun wenigstens ohne Bedauern sterben! Verzeiht mir, Cathérine, es wird nicht mehr vorkommen … aber ich habe Euch so sehr begehrt!«
Das wurde so freimütig eingestanden, daß Cathérine sich damit begnügte zu lächeln. Sie war, vielleicht mehr, als sie geahnt hatte, für die Wärme dieser ungeschlachten Zärtlichkeit empfänglich, aber Gauthier war erblaßt. Von neuem legte sich seine Hand auf den Arm der jungen Frau.
»Kommt, Dame Cathérine«, sagte er barsch.
Er hob die Laterne und stieg schon die schmale Treppe hinunter. Diesmal folgte ihm Cathérine. Sara kam hinter ihr, und Bruder Etienne bildete den Schluß, während die junge Frau ins Innere des Felsens vordrang, hörte sie ihn dem Schotten Lebewohl sagen und ihn ermahnen, sich ja nicht zu lange in der Auvergne aufzuhalten.
Er fügte hinzu:
»Die Zeit der Kämpfe kehrt wieder. Der Konnetabel wird Euch bald wieder brauchen.«
»Keine Sorge! Ich werde ihn nicht warten lassen!«
Dann hörte Cathérine nichts mehr. Die hohen, ungefügen Stufen, unbeholfen aus dem rohen Stein gehauen, fielen fast senkrecht in einen Felsschlund ab, und die junge Frau mußte genau auf jeden ihrer Schritte achten, um nicht zu straucheln und zu fallen. Dies war um so gefährlicher, als der Frost auch hier sein Unwesen getrieben hatte und jede Stufe gefährlich glitzerte. Als man schließlich das dichte Unterholz erreichte, das den Spalt verdeckte, in den die Treppe mündete, stieß Cathérine einen Seufzer der Erleichterung aus. Dank Gauthier, der die Sträucher für sie auseinanderschob, überwand sie auch dieses leichte Hindernis ohne großen Schaden, aber sie wurde plötzlich gewahr, daß die hohe Palisade aus mächtigen, zugespitzten Pfählen fast unmittelbar an der Felswand entlang verlief, Palisade und Fels bildeten eine Art schmalen und tiefen Schlauchs.
Aus dem Augenwinkel maß Cathérine den schreckenerregenden Holzwall ab.
»Wie kommen wir da hinüber? Am besten, wir klettern wieder nach oben. Die Pfähle sind zu spitz, um ohne Strickleiter hinüberzukommen.«
»Klar«, erwiderte Gauthier ruhig. »Sie sind ja deshalb so gemacht worden.«
Er trat aus dem Gebüsch, das der Treppe als Deckung diente, und begann, nach rechts gehend, die Pfähle zu zählen. Beim siebenten blieb er stehen. Die erstaunte Cathérine sah, wie er den riesigen Baumstamm packte und mit aller Kraft an ihm zerrte. Die Adern schwollen ihm auf der Stirn, während er den unteren Teil des offenbar kunstvoll in der Mitte durchgeschnittenen Stamms keuchend aus seiner Verklammerung riß. Durch die schmale Pforte, die sich damit öffnete, kamen der steile, zum Bach hinunterführende Hang und die zwei oder drei Häuschen des Weilers Cabanes auf dem Abhang gegenüber zum Vorschein. Genau in diesem Augenblick tauchte der Mond zwischen zwei dicken Wolken auf, warf sein bleiches Licht auf die Erde und erhellte die weite Schneefläche. Die Baumstämme und schneebedeckten Sträucher wurden sichtbar wie am hellen Tag. Hinter die Palisade geduckt, betrachteten die Flüchtlinge den reinen weißen Hang, der sich vor ihnen dehnte.
»Wir werden wie Tintenflecke auf einer weißen Seite zu sehen sein«, murmelte Bruder Etienne. »Es braucht bloß einer der Wachtposten den Kopf nach unserer Seite zu wenden, um uns zu entdecken und Alarm zu schlagen.«
Niemand antwortete. Der Mönch hatte sehr deutlich ausgedrückt, was jeder dachte, und Cathérine wurde von Nervosität gepackt.
»Was sollen wir tun? Unsere einzige Chance besteht darin, daß wir in dieser Nacht fliehen, solange die Einschließung noch nicht vollkommen ist. Wenn man uns aber sieht, sind wir schon gefangen.«
Gleichsam um ihr recht zu geben, ließen sich in diesem Moment Stimmen vernehmen, nahe genug, um die unmittelbare Gefahr deutlich zu machen. Gauthier schob vorsichtig den Kopf durch die Öffnung, zog ihn aber fast sofort wieder zurück.
»Der erste Posten ist nur ein paar Klafter entfernt. Etwa zehn Mann … aber auch das wird uns nicht mattsetzen«, fügte er mit leisem Bedauern hinzu. »Das beste ist zu warten.«
»Auf was?« fragte Cathérine nervös. »Auf den Tagesanbruch?«
»Bis der Mond untergeht. Dem Himmel sei Dank, daß der Tag im Winter spät anbricht.«
Sie mußten ausharren in Kälte und Schnee. Den Hals gereckt, das Auge auf die fahle Scheibe des Mondes gerichtet, hielten die vier Gefährten den Atem an. Es war wie verhext: Dicke Wolken zogen von einem Ende zum anderen über den Horizont, aber keiner gelang es, das verräterische Gestirn zu verdunkeln. Cathérines Füße und Hände waren eisig. Das zurückgezogene Leben, das sie in letzter Zeit geführt hatte, hatte sie verletzlicher gemacht, und sie litt mehr als die anderen darunter, so unbeweglich in diesem eisigen Gang verharren zu müssen. Von Zeit zu Zeit rieb Sara ihr kräftig den Rücken, aber das Wohlbefinden, das sie dabei empfand, hielt nicht lange an, ihre Nerven beruhigten sich nicht.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie Gauthier zu. »Wir müssen etwas tun … Schlimmstenfalls setzen wir alles auf eine Karte! Man hört nichts mehr. Sind die Wachen vielleicht eingeschlafen?«
Gauthier spähte von neuem hinaus. Genau in diesem Augenblick wirbelte ein heftiger Windstoß den pulvrigen Schnee zu einem dichten Gestöber auf. Gleichzeitig verschwand der Mond, von einer dicken Wolke verschluckt, vom Himmel. Das Licht wurde viel schwächer. Gauthier warf Cathérine einen raschen Blick zu.
»Könnt Ihr laufen?«
»Ich glaube ja.«