An diesem Abend brachte sie ihn selbst zu Bett, dann, nachdem sie ihn geküßt hatte, ließ sie ihn die Geschichte anhören, die Gauthier erzählte. Jeden Abend erzählte der Normanne seinem kleinen Freund eine Geschichte, einen Ausschnitt, wenn die Erzählung zu lang war, und es waren die fremden Legenden aus dem Norden, voll von Dämonen, phantastischen Göttern und kriegerischen Jungfrauen. Der Kleine hörte mit offenem Mund zu und schlief schließlich langsam ein …
Cathérine zog sich auf Zehenspitzen zurück, während Gauthier begann:
»Also, der Sohn Erichs des Roten stieg mit seinen Kameraden auf sein Schiff und fuhr mit ihnen auf das große Meer hinaus …«
Gauthiers Stimme hatte etwas Einschläferndes. Das Kind war noch zu jung, um diese Erzählungen aus einem anderen Zeitalter zu begreifen, aber es machte trotzdem große verwunderte Augen, von den melodramatischen, unbekannten Worten und dem Zauber dieser ernsten Stimme gefesselt. In ihrem kleinen, schmalen Bett überließ Cathérine sich ihr auch, empfänglich für die Besänftigung, die die Stimme ihr brachte. Ihr letzter Gedanke galt Sara. Sie waren so schnell geritten, sie und die Bretonen, daß sie sie vielleicht überholt hatten, ohne es zu wissen. Aber jetzt würde sie zweifellos bald eintreffen … Der Gedanke, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte, kam ihr gar nicht. Sara war unverwüstlich, kannte die Geheimnisse der Natur, und die Natur war ihre Freundin. Bald würde sie dasein … ja, bald …
Der Sohn Erichs des Roten segelte bereits geraume Zeit auf den grünen, endlosen Wellen des Meeres, als Cathérine schon tief schlief …
Sie hatte eine merkwürdige Vision, etwa um Mitternacht. Schlief sie noch, oder war sie vielleicht halb aufgewacht? War dies ein Traum? Es war ihr, als ob sie die Augen auf den ihr noch fremden Hintergrund des Zimmers öffnete. Die Stille war vollkommen, aber das Nachtlicht, das neben Isabelle brannte, leuchtete noch. Von ihrem Bett aus konnte Cathérine die schlafende Donatienne sehen, die Nase im Schoß und die Haube quer über ihrer mit Kissen belegten Bank … Plötzlich glitt eine dunkle Gestalt neben das Bett der Kranken … die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der eine Maske trug … Der Schreck stieg Cathérine in die Kehle. Sie wollte schreien, aber kein Ton entrang sich ihrem Mund. Sie wollte sich bewegen, aber ihre Glieder, ihr Körper waren so schwer geworden, daß sie den Eindruck hatte, ans Bett gefesselt zu sein. Wie in einem quälenden Alptraum sah sie, wie der Mann sich hinabbeugte, sich noch einmal über das Bett Isabelles beugte, eine Bewegung machte und sich dann wieder aufrichtete. In der Meinung, der Unbekannte sei im Begriff, die Kranke zu ermorden, öffnete Cathérine den Mund, aber wieder kam kein Ton heraus …
Der Mann trat jetzt zurück, wandte sich um … die Maske in der Hand … und Cathérines Angst verwandelte sich in eine ungeheure Freude, die sie überflutete. Sie erkannte das kühne Profil, die dunklen Augen und den festen Mund ihres Gatten sehr gut! Arnaud! Es war Arnaud! … Eine wundervolle Glückswelle, wie nur die Träume sie einem gewähren, hüllte Cathérine ein. Er war da, er war zurückgekommen … Gott hatte zweifellos ein Wunder bewirkt, denn das schöne Gesicht, das sie so deutlich in Erinnerung behalten hatte, war unversehrt. Es zeigte keinerlei Spuren der abscheulichen Krankheit. Aber warum war es so blaß, so todtraurig? …
Von der Liebe aufgewühlt, die sie einen Augenblick eingeschlummert geglaubt hatte und die nun fordernder denn je wiederkehrte, wollte sie ihn zu sich rufen, die Arme ausstrecken … und fand sich wieder ohnmächtig, unfähig dazu. Der Alpdruck, der Nebel, der sie einhüllte, erstickte sie fast … Und schon sah sie Arnaud unerbittlich in diesem Nebel verschwinden, in Richtung auf Michels Zimmer. Und dann war nichts mehr als ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit, der unabänderlichen Einsamkeit …
»Er ist verschwunden«, dachte Cathérine verzweifelt. »Diesmal werde ich ihn nicht wiedersehen … nie mehr!«
Sie stand bei Sonnenaufgang auf. Draußen stieß Tristan ins Horn und rief die Bretonen in den Sattel. Die Stunde des Aufbruchs war nahe, und Cathérine erhob sich, um dabei behilflich zu sein. Nicht ohne Mühe. Sie fühlte sich schrecklich müde, ihr Kopf war schwer, und die Beine waren schwach. Aber durch das schmale Fenster ihrer Zelle drang ein schöner, zu dieser Morgenstunde noch etwas schüchterner Sonnenstrahl zu ihr, und im anderen Zimmer hörte sie Michel in seinem Bettchen plappern … Sie betupfte sich das Gesicht mit etwas Wasser, beeilte sich beim Ankleiden und kämpfte, so gut sie konnte, gegen einen mehr und mehr peinigenden Eindruck an.
Es gelang ihr nicht, den Traum der vergangenen Nacht aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Je mehr sie daran dachte, desto mehr fühlte sie sich versucht zu weinen, denn sie erinnerte sich, schreckliche Geschichten von Leuten gehört zu haben, die ihren Lieben zur Stunde ihres Todes erschienen waren, um ihnen dies anzukündigen. War dieser so realistische Traum nicht eine dieser tragischen Vorwarnungen? Und war Arnaud nicht …? Nein, sie konnte sich nicht einmal das Wort vorstellen! Andererseits … die ungewöhnlich lange Abwesenheit Fortunáis? Wenn er etwa da unten eine schreckliche Neuigkeit erfahren hätte? Vielleicht hatte die Krankheit zu schnelle Fortschritte gemacht …
»Es ist zum Verrücktwerden!« dachte Cathérine laut. »Ich muß Bescheid wissen, Gauthier muß sofort aufbrechen … oder vielmehr, nein, ich werde mit ihm gehen … Donatienne wird meine Schwiegermutter heute noch gut versorgen, und für die schnellen Beine Morganes sind sechs Meilen hin und ebenso viele zurück eine Kleinigkeit. Bis zum Abend sind wir wieder hier!«
Sie eilte, ihren Sohn zu umarmen, stellte nebenbei fest, daß die Dame Isabelle noch schlief, und trat schnell in den Hof. Die Bretonen waren bereits aufgesessen, aber neben dem weit offenstehenden Stall unterhielt Tristan sich mit Gauthier. Sie traten auseinander, als sie Cathérine bemerkten. Sie zwang sich, trotz der Trauer in ihrem Herzen dem Abreisenden zuzulächeln, und streckte ihm die Hand hin:
»Gute Reise, Freund Tristan! Sagt Monseigneur dem Konnetabel, wie dankbar ich ihm bin, daß er Euch zu mir geschickt hat.«
»Bestimmt wird er wissen wollen, wann wir das Glück haben werden, Euch wiederzusehen, Dame Cathérine!«
»Nicht sehr bald, fürchte ich, außer Ihr kommt inzwischen wieder her! Ich habe soviel zu tun in der Auvergne! Es muß alles wieder werden wie früher!«
»Bah! Die Auvergne ist nicht so weit! Ich weiß, daß der König plant hierherzukommen, und wenn er sich endlich mit Richemont ausgesöhnt hat, werden wir vielleicht alle bald vereint sein!«
»Gebe es Gott! Auf Wiedersehen, mein Freund.«
Er küßte die Hand, die sie ihm noch hinhielt, und schwang sich in den Sattel. Die Pforten der Abtei öffneten sich weit vor ihm, gaben den Dorfplatz frei, wo sich die Hausfrauen bereits zusammenrotteten. Tristan l'Hermite setzte sich an die Spitze seiner Truppe, doch im Augenblick, als er über die geweihte Schwelle ritt, drehte er sich um, zog seinen schwarzen Filzhut und schwenkte ihn in die Luft.
»Auf bald, Dame Cathérine!«
»Auf bald, so Gott will, Freund Tristan!«
Einige Augenblicke später waren die schweren Torflügel wieder geschlossen, und der Hof war leer. Cathérine ging auf Gauthier zu, der sich noch neben der offenen Stalltür aufhielt.
»Ich habe heute nacht einen seltsamen Traum gehabt, Gauthier … Traurige Gedanken quälen mich … Außerdem habe ich beschlossen, mit dir Fortunat nachzureiten. Selbst wenn wir bis Calves reiten müssen, glaube ich doch, daß wir noch bei Tag zurückkommen können. Nimm dir ein Pferd und sattle mir Morgane!«
»Das würde ich gerne tun«, erwiderte ruhig der Normanne, »aber leider ist es unmöglich!«
»Und warum?«
»Weil Morgane nicht mehr da ist.«
»Was heißt das?«
»Ich sage die Wahrheit: Morgane ist verschwunden. Seht selbst …«
Verblüfft folgte Cathérine Gauthier in den dunklen Stall. Mehrere Pferde standen noch da, aber es war nur zu wahr, daß sich darunter keine weiße Stute befand. Bewegungslos inmitten des Stalles stehend, starrte Cathérine Gauthier an.
»Wo ist sie?«
»Wie soll ich das wissen? Niemand hat etwas gesehen, niemand etwas gehört … Außerdem fehlt noch ein anderes Pferd, Roland, eins von denen, die der Abt uns gegeben hat.«
»Unglaublich! Wie konnten die beiden Tiere hier herauskommen, ohne daß jemand es merkte?«
»Ohne Zweifel, weil der, der sie weggeführt hat, die Möglichkeit hatte, sich hier einzuschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er muß die Abtei gut gekannt haben.«
»Und«, sagte Cathérine, sich auf ein Bündel Stroh setzend, »was schließt du daraus?«
Gauthier antwortete nicht sofort. Er überlegte. Nach einem Augenblick warf er Cathérine einen unsicheren Blick zu.
»Zufällig«, sagte er, »war Roland, das Pferd, das zusammen mit Morgane gestohlen wurde, dasjenige, dessen Fortunat sich gewöhnlich bediente, wenn er nach Aurillac oder sonstwohin ritt …«
»Aber nicht nach Calves?«
»Nein. Ihr wißt noch, daß er grundsätzlich nur zu Fuß dorthin ging … wegen Messire Arnaud!«
Jetzt war es an Cathérine zu schweigen. Sie hatte sich einen Strohhalm herausgezogen und kaute zerstreut daran. Eine Fülle von Gedanken ging ihr durch den Kopf. Schließlich hob sie den Blick.
»Ich frage mich, ob ich wirklich geträumt habe!« sagte sie. »Ob es nicht eine dieser Vorahnungen war?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nichts, ich werde es dir erklären. Sattle zwei Pferde und sage Donatienne, daß wir den ganzen Tag fort sein werden. Ich werde meine Männerkleidung anlegen.«
»Wohin reiten wir?«
»Nach Calves, los! Und so schnell wie möglich!«