»Ich sage die Wahrheit: Morgane ist verschwunden. Seht selbst …«
Verblüfft folgte Cathérine Gauthier in den dunklen Stall. Mehrere Pferde standen noch da, aber es war nur zu wahr, daß sich darunter keine weiße Stute befand. Bewegungslos inmitten des Stalles stehend, starrte Cathérine Gauthier an.
»Wo ist sie?«
»Wie soll ich das wissen? Niemand hat etwas gesehen, niemand etwas gehört … Außerdem fehlt noch ein anderes Pferd, Roland, eins von denen, die der Abt uns gegeben hat.«
»Unglaublich! Wie konnten die beiden Tiere hier herauskommen, ohne daß jemand es merkte?«
»Ohne Zweifel, weil der, der sie weggeführt hat, die Möglichkeit hatte, sich hier einzuschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er muß die Abtei gut gekannt haben.«
»Und«, sagte Cathérine, sich auf ein Bündel Stroh setzend, »was schließt du daraus?«
Gauthier antwortete nicht sofort. Er überlegte. Nach einem Augenblick warf er Cathérine einen unsicheren Blick zu.
»Zufällig«, sagte er, »war Roland, das Pferd, das zusammen mit Morgane gestohlen wurde, dasjenige, dessen Fortunat sich gewöhnlich bediente, wenn er nach Aurillac oder sonstwohin ritt …«
»Aber nicht nach Calves?«
»Nein. Ihr wißt noch, daß er grundsätzlich nur zu Fuß dorthin ging … wegen Messire Arnaud!«
Jetzt war es an Cathérine zu schweigen. Sie hatte sich einen Strohhalm herausgezogen und kaute zerstreut daran. Eine Fülle von Gedanken ging ihr durch den Kopf. Schließlich hob sie den Blick.
»Ich frage mich, ob ich wirklich geträumt habe!« sagte sie. »Ob es nicht eine dieser Vorahnungen war?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nichts, ich werde es dir erklären. Sattle zwei Pferde und sage Donatienne, daß wir den ganzen Tag fort sein werden. Ich werde meine Männerkleidung anlegen.«
»Wohin reiten wir?«
»Nach Calves, los! Und so schnell wie möglich!«
Fünfzehntes Kapitel
An der Kreuzung der beiden Landstraßen hielten die Reiter ihre Pferde an, unschlüssig, welche sie einschlagen sollten. Das ärmliche Dorf Calves lag jetzt ganz nahe, und am Horizont konnte Cathérine nicht ohne Bewegung den Basaltfelsen von Carlat, gespickt mit Türmen und Mauern, aufragen sehen.
Dort hatte sie die quälendsten Stunden ihres ganzen Daseins durchlebt, war aus der bedrohten Feste geflohen, aber nun, angesichts dieses imposanten, vertraut gewordenen Hintergrunds, fühlte sie doch, wie ihr der Mut schwand.
Ein von den Feldern kommender Bauer, die Hacke über der Schulter, näherte sich dem Kreuzweg. Gauthier erkundigte sich vom Sattel aus bei ihm.
»Weißt du, braver Mann, wo das Haus der Leprakranken ist?«
Der Mann bekreuzigte sich bestürzt und zeigte auf eine der beiden Straßen.
»Dort hinunter bis zum Fluß … dann werdet Ihr ein großes, verschlossenes Gebäude sehen. Das ist es. Aber kommt hinterher nicht ins Dorf!«
Eiligst entfernte er sich in Richtung des Weilers. Cathérine lenkte den Kopf ihres Pferdes in die angezeigte Richtung.
»Reiten wir!« sagte sie nur.
Die Straße fiel zur Ebene ab, einem kleinen Fluß, der sich weiter entfernt um den Felsen von Carlat wand. Eine Reihe Weiden bezeichnete seinen Lauf. Cathérine ritt schweigend voran, sich ganz dem Schritt ihres Pferdes überlassend. So dicht bei dem Ort, von dem sie so oft geträumt hatte, ohne je zu wagen, sich ihm zu nähern, befiel sie eine beklemmende Erregung. In wenigen Augenblicken würde sie Arnaud ganz nahe sein, nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo er lebte … Vielleicht würde es ihr gelingen, ihn zu sehen! Der bloße Gedanke ließ ihr Herz wild pochen, doch trotzdem fiel es ihr schwer, sich im Geiste von der bösen Vorahnung loszureißen, die sie seit dem Morgen mit sich herumtrug …
Der Weg bog jetzt ab und führte durch ein kleines Gehölz, dessen Zweiggewirr undurchdringlich schien. Der holprige, schwierige, von eingefahrenen uralten Wagenspuren und schlammig gebliebenen Löchern ausgehöhlte Boden konnte nicht oft betreten worden sein. Der Himmel an diesem Tagesende (Cathérine und Gauthier hatten wesentlich mehr Zeit gebraucht, als sie glaubten, um Calves zu erreichen) verschwand hinter dem dichten Gewölbe des Blattwerks. Dieses Gehölz wirkte, als sei es eine von Menschen errichtete Baumschranke zum Schutz vor den Ausgestoßenen der Leprastation … Und dann plötzlich, am Fuß des Abhangs, schwenkten die beiden Reiter um einen steilen Felsen herum und befanden sich wieder am Ufer des Flüßchens.
Über dem hier verengten Tal, in dem nur das melancholische Lied des Wassers zu hören war, lastete eine Atmosphäre beklemmender Trauer. Am Rand des Wäldchens hielt Cathérine brüsk ihr Pferd an. Gauthier tat es ihr nach, und beide verharrten nebeneinander, bewegungslos, verblüfft. Einige Klafter vor ihnen ragten die Umfassungsmauern einer Art Meierei empor … nur die Umfassungsmauern, denn in der Mitte gab es nichts als geschwärzte Mauerreste, verkohlte Balken, einen stehengebliebenen Spitzbogen, der der Eingang der Kapelle gewesen sein mußte. Das große Portal, herausgerissen und in seinen Angeln hängend, gab den Blick auf den Innenhof der Leprastation frei, der voll ausgeglühten Schuttes lag. Einzig das unheilvolle Krächzen der Raben, die am Himmel kurvten, und das Rauschen des Flüßchens störten die Stille.
Cathérine wurde totenblaß, schloß die Augen und schwankte im Sattel, einer Ohnmacht nahe.
»Arnaud ist tot!« stammelte sie. »Es war sein Geist, den ich gestern nacht gesehen habe!«
Mit einem Satz sprang Gauthier zu Boden. Seine starken Arme hoben die junge Frau aus dem Sattel. Besorgt, weil sie erschreckend blaß war und mit den Zähnen klapperte, bettete er sie auf die Wegböschung und machte sich daran, ihr kräftig die erstarrten Hände zu massieren.
»Dame Cathérine! Vorwärts! … Kommt zu Euch! Habt Mut, ich bitte Euch!« flehte er sie an.
Doch ihr war, als entrinne ihr das Leben, als flösse es ihr aus dem Körper wie Wasser, als schwinde mit ihm ihr Bewußtsein. Verzweifelt gab er ihr zwei Ohrfeigen, sich mit aller Gewalt beherrschend, um sie nicht durch ein Übermaß an Kraft zu töten. Die blassen Wangen wurden schnell wieder rot, Cathérine öffnete die Augen und sah ihn verblüfft an. Er lächelte zerknirscht:
»Verzeiht mir, ich hatte keine andere Wahl! Wartet, ich werde Euch ein wenig Wasser holen.«
Die niedergebrannten Gebäude umgehend, lief er zum Fluß, füllte den Becher, den er am Gürtel trug, und kam zurück, um Cathérine mit der Fürsorglichkeit einer Mutter zu trinken zu geben. Die Wirkung trat sofort und jäh ein; die junge Frau brach in Tränen aus.
Vor ihr stehend, ließ er sie weinen, denn er kannte die beruhigende Macht der Tränen. Er sagte kein Wort, tat nichts, um den schrecklichen Tränenstrom aufzuhalten, der aus ihr hervorbrach. Und mählich beruhigte sich Cathérine … Nach einer kurzen Weile hob sie ihr versteinertes Gesicht mit den verweinten Augen zu dem Normannen.
»Wir müssen herausbekommen, was passiert ist!« sagte sie mit sich festigender Stimme.
Gauthier reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie ließ sie nicht los, glücklich, diese Kraft, diese Wärme zu spüren, die sie für das Kommende brauchen würde. Von ihm gestützt, schritt sie zum zerstörten Portal, über dem noch das Wappen der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac zu sehen war, zu der die Leprastation gehörte. Aber ihr Herzschlag setzte einmal aus, als sie über die Schwelle trat, über die Arnaud eines Tages geschritten war … für immer!
Noch liefen ihr Tränen über die Wangen, schwer, unversiegbar, aber sie kümmerte sich nicht darum. Die Zerstörung im Innern war vollkommen, total. Es blieben nur angekohlte, verbogene Trümmer, die Cathérine an die Ruinen von Montsalvy erinnerten. Die Feuersbrunst hatte alles verwüstet, ausgenommen einige besonders dicke Mauern, die dem Brand widerstanden hatten. Aber nirgends war mehr ein Dach, keine einzige Tür, nichts als geborstene Steine, über die Gauthier sich beugte.