Sie richtete sich auf, bemühte sich, vor den Leuten, die sie auf der Straße traf, Haltung zu bewahren. Doch als sie im Kloster ankamen, trafen Cathérine und Saturnin den Abt persönlich in der Loge des Bruders Pförtner an …
»Ich wollte Euch schon suchen gehen, Dame Cathérine«, sagte er. »Eure Mutter hat einen Rückfall gehabt und das Bewußtsein verloren …«
»Dabei ging es ihr vorhin doch so gut!«
»Ich weiß. Wir sprachen ruhig miteinander, doch plötzlich sank sie in die Kissen zurück, der Atem ging kurz … Sara ist bei ihr und unser Bruder Apotheker.«
Cathérine war gezwungen, ihren eigenen Schmerz zum Schweigen zu bringen, während sie an das Krankenbett der alten Frau eilte. Tapfer schob sie den fatalen Brief in ihren Almosenbeutel und ging zu Isabelle hinein. Die Kranke lag immer noch regungslos auf ihrem Lager, über sie gebeugt, versuchte Sara, sie wiederzubeleben, indem sie sie scharfen Duft eines Fläschchens einatmen ließ, während der Bruder Apotheker ihr die Schläfen mit einem belebenden Wasser einrieb. Cathérine beugte sich hinunter:
»Geht es ihr sehr schlecht?«
»Sie kommt wieder zu sich!« flüsterte Sara mit gerunzelter Stirn. »Aber ich habe wahrhaftig geglaubt, es gehe zu Ende.«
»Auf jeden Fall«, meinte der Mönch, »wird sie es nicht mehr lange machen. Sie hält sich nur mit Mühe aufrecht.«
In der Tat kam Isabelle mählich wieder zu sich. Mit einem erleichterten Seufzer richtete Sara sich auf und lächelte Cathérine zu, doch ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen.
»Aber … du bist ja blasser als sie! Was ist denn passiert?«
»Ich weiß, wo Arnaud ist!« erwiderte Cathérine mit tonloser Stimme. »Du hattest recht, Sara, als du sagtest, daß ich es mein Leben lang bereuen würde, wenn ich Pierre de Brézé erhörte. Die Reue ist sehr schnell gekommen.«
»Sprich doch. Was ist?«
»Nein. Später. Saturnin wird im großen Saal warten. Bitte ihn zu bleiben. Suche auch Gauthier, schicke jemand zu Ehrwürden Vater Abt und laß ihn bitten, sich zu uns zu bemühen. Ich habe ernste Dinge zu berichten!«
Eine Stunde später trat der Rat zusammen, den Cathérine gewünscht hatte, zwar nicht im Gemeinschaftssaal des Gästehauses, sondern im Kapitularsaal der Abtei, in den der Abt seine Gefährten hatte bitten lassen. Von Bruder Eusebius geführt, schritten Cathérine, Gauthier, Saturnin und Sara durch die zu dieser Stunde stille Kirche, in der ein Öllämpchen vor einer Statue Unserer Frau brannte, der die Stiftskirche geweiht war. Dann traten sie in den großen Saal. Er wurde durch vier an zwei das Gewölbe tragenden Säulen angebrachte Fackeln erleuchtet.
Der Abt, ein schmales Schemen in seiner langen schwarzen Kutte, war allein. Langsam ging er vor dem Abt-Thron hin und her, die Hände in den weiten Ärmeln vergraben, die Stirn unter dem kurz geschorenen, hellen Haarkranz gesenkt. Das Licht der Fackeln verlieh seinem gelben, asketischen Gesicht die Tönung alten Elfenbeins. Er war gleichermaßen ein Mann der Tat, denn er leitete sein Kloster mit fester Hand, und ein Mann des Gebetes.
Seine Liebe zu Gott war unermeßlich, sein Leben ohne Fehl, und wenn seine Jugend ihn zwang, strenge Haltung zu bewahren, ernst auszusehen, um seine Autorität zu sichern, verbarg er unter seinem fast eisigen Benehmen doch großes Mitleid mit den Menschen und ein glühendes Herz.
Als er die von ihm Erwarteten eintreten sah, blieb er stehen, setzte einen Fuß auf die Stufe, die den Thron erhöhte, und wies Cathérine mit einer Handbewegung einen Schemel an.
»Setzt Euch, meine Tochter! Ich bin hier, Euch anzuhören und Euch mit meinem Rat zu helfen, wie Ihr gebeten habt.«
»Seid bedankt, mein Vater, denn ich bin in großer Not. Ein unvorhergesehenes Ereignis hat mein ganzes Leben in Unordnung gebracht. Auch wollte ich Euch um Eure Unterstützung bitten. Dies hier sind meine getreuen Diener, vor denen ich nichts zu verbergen habe.«
»Sprecht, ich höre Euch zu!«
»Zuerst muß ich Euch die Wahrheit über den angeblichen Tod meines Gatten, Arnaud de Montsalvy, gestehen. Es wird Zeit, daß Ihr sie kennt …«
Die blasse Hand des Abtes hob sich, um Cathérine zu unterbrechen.
»Spart Euch die Mühe, meine Tochter! Dame Isabelle hat mir in der Beichte dieses schmerzliche Geheimnis bereits anvertraut. Es ist keins mehr, da Ihr nun einmal davon sprechen wollt.«
»Dann, mein Vater, wollt Ihr bitte diesen Brief lesen … und lest ihn bitte laut. Gauthier hier kann nicht lesen; und Sara hat große Mühe, ihn zu entziffern.«
Bernard de Calmont neigte zustimmend den Kopf, nahm den Brief und begann ihn vorzulesen. Cathérine hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Die ruhige, ernste Stimme des Abtes verlieh den Abschiedsworten einen aufwühlenden Zauber, der sie trotz aller Bemühung, Ruhe zu bewahren, erschütterte. Hinter ihrem Rücken hörte sie die gedämpften Ausrufe ihrer drei Gefährten, wandte sich aber nicht um. Erst als der Abt verstummte, öffnete sie wieder die Augen.
Jetzt sah sie, daß aller Augen auf sie gerichtet waren und daß in denen des Abtes tiefes Mitleid lag. Saras Hand legte sich ermutigend auf ihre Schulter.
»Welchen Rat soll ich Euch geben, meine Tochter«, fragte der Abt, »und welche Art Hilfe?«
»Ich werde aufbrechen, mein Vater. Trotz des Kummers, den mir die Trennung von meinem kleinen Sohn bereiten wird, da ich nur noch ihn habe und er nur mich, muß ich fort und um jeden Preis seinen Vater finden! Ein furchtbares Mißverständnis ist zwischen ihm und mir entstanden. Ich kann es nicht ertragen. Messire de Brézé hat – in gutem Glauben angenommen, weil ich ihm freundschaftlich entgegenkam, daß ich einwilligen würde, seine Frau zu werden. Er kannte die Wahrheit nicht und konnte nicht wissen, daß ich mich um keinen Preis bereit finden würde, einen anderen Namen als den meinen zu tragen. Er hat aus Naivität gehandelt, auch aus Liebe … und hat eine entsetzliche Katastrophe heraufbeschworen. Ich möchte Euch bitten, Euch meines Sohnes anzunehmen, über ihn zu wachen wie ein Vater, mich völlig in der Herrschaft über Montsalvy zu ersetzen und Euch für den Wiederaufbau des Schlosses zu interessieren. Meine Diener bleiben … ich gehe!«
»Wohin geht Ihr? Ihm nach?«
»Natürlich. Ich möchte ihn nicht für immer verlieren.«
»Er ist bereits für immer verloren!« sagte der Abt streng. »Er wendet sich Gott zu. Warum wollt Ihr ihn auf die Erde zurückholen? Die Lepra ist gnadenlos!«
»Nur wenn Gott es will! Muß ich Euch, mein Vater, daran erinnern, daß es Wunder gibt! Wer sagt Euch, daß er am Grab San Jagos von Galicia nicht Heilung finden wird?«
»Dann laßt ihn dort hingehen, wie er es beabsichtigt! Aber allein!«
»Und wenn er gesundet? Soll ich ihn auch dann weiterziehen lassen, fern von mir, um sich im Kampf gegen die Ungläubigen töten zu lassen?«
»Was sonst taten die Frauen der alten Kreuzfahrer?«
»Einige gingen mit ihnen! Ich möchte den Mann wiederfinden, den ich liebe!« schleuderte Cathérine in wildem, leidenschaftlichem Ton dem Abt entgegen, der die Augen abwandte und leicht die Stirn runzelte.
»Und … wenn er nicht geheilt wird?« sagte er schließlich. »Es ist eine seltene Gnade, die einem nicht leicht widerfährt.«
Es trat Stille ein. Bis dahin hatten sich die Fragen und Antworten Cathérines und des Abtes in rascher Folge gekreuzt wie die Degen zweier Duellanten. Aber die letzten Worte beschworen das große Entsetzen der verfluchten Krankheit herauf. Ein Frösteln glitt über den Rücken aller Anwesenden.
Cathérine erhob sich, schritt zu dem großen gekreuzigten Christus, der seine entfleischten Arme an der Wand des Kapitularsaales ausbreitete.