»Wenn er nicht gesundet, bleibe ich bei ihm, so lange lebend, wie er leben wird, an seiner Krankheit sterbend, aber mit ihm!« sagte sie fest, die Augen auf das Kreuz geheftet, als wollte sie es zum Zeugen anrufen.
»Gott verbietet den Selbstmord! Mit einem Leprakranken leben heißt willentlich den Tod suchen!« wandte der Abt trocken ein.
»Lieber den Tod mit ihm als das Leben ohne ihn … und selbst die Verdammnis, falls man Gott lästert, indem man über alle Maßen liebt!«
Die Stimme des Abtes donnerte, während seine magere Hand sich gen Himmel streckte.
»Schweigt! Die menschliche Leidenschaft läßt Euch ganz bestimmt noch einmal lästern! Bereut, wenn Euch vergeben werden soll, und bedenkt, daß die Stimme der fleischlichen Liebe eine Beleidigung der Reinheit Gottes ist!«
»Verzeiht mir … aber ich kann nicht lügen, wenn es sich um das handelt, was mein Leben ausmacht. Ich kann nicht anders sprechen! Antwortet mir nur, mein Vater. Seid Ihr einverstanden, mich in Montsalvy zu vertreten und meine Familie weiter zu beschützen, gleichzeitig also Herr und Abt bis zu meiner Rückkehr zu sein?«
»Nein!«
Das Wort kam geradezu knallend, scharf und endgültig.
Von neuem trat dumpfe Stille ein. Hinter Cathérine hielten die drei stummen Zeugen den Atem an. Die junge Frau sah das schmale, strenge Gesicht ungläubig an.
»Nein? … Mein Vater! … Warum nicht?«
Es war ein wahrhafter Schmerzensschrei! Langsam ließ sie sich auf die Knie fallen und streckte die Hände in der instinktiven Bewegung einer Flehenden aus.
»Warum nicht?« wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme. »Laßt mich gehen! Wenn ich seine Liebe auf immer verliere, wird mein Herz von selbst aufhören zu schlagen. Ich könnte nicht mehr leben!«
Die starren Züge drückten plötzlich tiefe Sanftmut aus. Bernard de Calmont beugte sich zu der jungen Frau hinunter, nahm die ihm entgegengestreckten Hände und hob die Kniende behutsam auf.
»Weil Ihr jetzt nicht gehen könnt, meine Tochter! Ihr denkt nur an Eure menschliche Leidenschaft, an Euren rechtmäßigen … und vielleicht auch verdienten Schmerz. Hattet Ihr diesen jungen Herrn nicht ermutigt, Eure Liebe zu erhoffen? Nein, antwortet mir nicht! Sagt mir nur, ob diese Liebe Euch nicht zur Grausamkeit treibt, ob es in diesem so völlig vergebenen Herzen nicht noch Mitleid für andere gibt?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Dies: Von Eurem Sohn ganz zu schweigen, der Euch hier zurückhalten sollte, werdet Ihr die alte Frau ohne Eure Liebe allein sterben lassen, diese Mutter, die nur noch Euch hat und deren Leid zweifellos schlimmer ist als das Eure, denn Ihr bewahrt in Eurem Inneren zähe die dunkle Hoffnung, Euren Gatten wiederzusehen. Während sie weiß, daß sie ihren Sohn niemals wiedersehen wird … Werdet Ihr so gefühllos sein?«
Cathérine senkte den Kopf. In ihrer Verzweiflung hatte sie Isabelle vergessen, die sich in der schmalen Zelle des klösterlichen Gästehauses zum Sterben legte. Nur bei dem Gedanken an die Trennung von Michel hatte sie gelitten. Er war der Grund für ihr ganzes Bedenken gewesen, für alles, was sie hätte zurückhalten können. An die alte Frau hatte sie nicht gedacht. Jetzt schämte sie sich dessen, aber hinter den Vorwürfen, die ihr Gewissen ihr machte, hörte sie dennoch ihre Liebe protestieren. Niemand zählte, wenn es sich um Arnaud handelte.
Trotzdem gab sie sich ohne Zögern geschlagen.
»Nein!« sagte sie nur. Aber sie wandte sich um, in Saras Armen Trost suchend, die sie zärtlich an sich drückte. Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: »Ich werde bleiben.«
Darauf erhob sich die rauhe Stimme Gauthiers.
»Ihr müßt hierbleiben, Dame Cathérine, der Sterbenden und Eures Kindes wegen. Aber ich bin frei, wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt zu gehen! Ich kann Messire Arnaud nachreiten! Wer sollte mich daran hindern?« Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich an den Abt, den er um einen Kopf überragte: »Gebt mir ein Pferd und ein Beil, Mann Gottes! Vor den großen Landstraßen und den langen Ritten ist mir nicht bang!«
Cathérine, die dieser Ausbruch wieder belebt hatte, warf dem Normannen einen von Dank überfließenden Blick zu.
»Das ist wahr … Du bist ja da! Du wirst ihm sagen können, daß ich ihn niemals verraten habe, aber er wird nicht einwilligen, zu mir zurückzukehren, das weißt du sehr gut! Niemand hat je seinen Willen beugen können!«
»Ich werde tun, was ich kann. Zumindest wird die Pflicht für Euch den bitteren Geschmack verlieren, den Ihr jetzt empfindet. Wenn Messire Arnaud gesundet, werde ich ihn zurückbringen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn nicht … komme ich allein zu Euch zurück! Laßt Ihr mich gehen?«
»Wie könnte ich es dir verweigern? Du bist meine einzige Chance.«
»Also gehen wir!« rief Gauthier, der wie alle Männer der Tat nicht gern viele Worte machte. »Wir haben so schon genug Zeit verloren! Laßt mir die Stadttore öffnen – und aufs Pferd! Bei Odin, ich werde ihn schon zu finden wissen, selbst wenn ich ihm bis zu Mohammed nachreiten müßte!«
»Dies ist das Haus Gottes!« empörte sich der Abt. »Götzen haben hier nichts zu suchen! Kommt mit mir, Cathérine, meine Tochter … Bitten wir Unsere Liebe Frau im Himmel, über diesen Wilden zu wachen, der sie nicht einmal kennt! Und dann werden wir ihn zusammen gehen lassen … Ich werde Euch helfen!«
Eine Stunde später stand Cathérine zwischen Sara und Saturnin unter dem Südtor von Montsalvy und lauschte dem in Richtung des tiefen Tals des Lot verhallenden Hufgeklapper des Pferdes nach, das Gauthier im Galopp davontrug. Mit etwas Mundvorrat versehen, in festen Kleidern und mit einer vollen Börse ausgerüstet, im Sattel eines kräftigen Percheronpferdes, das durch Kraft wettmachte, was ihm an Rasse fehlte, stürzte sich der Normanne auf die Fährte Arnauds und Fortunats.
Als die Huf schlage sich in der Tiefe der von Sternen übersäten Nacht verloren hatten, hüllte Cathérine sich noch enger in den dunklen Mantel, in den sie sich gewickelt hatte, suchte am Firmament die weiße Spur der Milchstraße, die man auch die Straße San Jagos nannte, und seufzte.
»Wird es ihm gelingen, ihn zu finden? Diese südlichen Bereiche werden ihm so fremd sein wie das Land des Großen Khan.«
»Der Herr Abt hat ihm gesagt, er müsse der von Muscheln gezeichneten Straße folgen. Er hat ihm die Namen der ersten Wegstationen eingetrichtert, da er sie ihm ja nicht aufschreiben konnte«, sagte Saturnin. »Ihr müßt Vertrauen haben, Dame Cathérine! Wenn er auch nicht an sie glaubt, weiß ich doch, daß die Heilige Jungfrau über Gauthier wachen wird! … Sie verläßt diejenigen nie, die ihre Großmut auf die großen Landstraßen treibt!«
»Er hat recht!« meinte Sara zustimmend, Cathérines Arm nehmend. »Gauthier hat Kraft, Intelligenz und Verschlagenheit auf seiner Seite. Er hat in sich die Fähigkeit, Berge zu versetzen. Komm jetzt, kehren wir wieder zurück! Dame Isabelle braucht uns, und wenn du deinen Sohn umarmst, wirst du den Mut finden, dich weiter der Aufgabe zu widmen, die deiner wartet.«
Cathérine antwortete nicht.
Sie unterdrückte den Seufzer des Bedauerns, der ihr auf den Lippen lag, und stieg still wieder zur Abtei hinauf. Aber sie wußte genau, daß sie sich nur der Vernunft gebeugt hatte und daß der Wunsch, gleichfalls der Spur Arnauds zu folgen, sie nicht so bald verlassen würde …!
Lange wiegte sie an diesem Abend Michel in den Armen und erwärmte ihr schmerzendes Herz an ihrer Liebe zu dem Kind.
Sechzehntes Kapitel
Isabelle de Montsalvy starb einen Tag nach Saint-Michael, ohne zu leiden und ohne Todeskampf, fast friedlich. Am Vorabend ihres Todes hatte sie noch eine letzte Freude: Ihr Enkelsohn empfing zum erstenmal die Vasallenhuldigung.
In seiner Eigenschaft als Amtmann und in Übereinstimmung mit den Notabeln von Montsalvy hatte Saturnin entschieden, daß das Kind an seinem Namenstag offiziell als Herr der kleinen Stadt anerkannt werden sollte. Da nun der König den Montsalvys alle Titel und Güter zurückgegeben hatte, schien das Datum des 29. Septembers dem ausgezeichneten Mann für eine solche Feierlichkeit besonders geeignet, um so mehr, als es mit dem Fest der Schäfer zusammenfiel, zu dem sich jedes Jahr zur gleichen Zeit die Hüter der Schafe aus der ganzen Gegend auf der Ebene von Montsalvy versammelten.