Beim Verlassen der geweihten Stätte kreuzte sich der Blick der jungen Frau mit dem des Abtes, der die Totenmesse gelesen hatte. Sie sah in ihm gleichermaßen eine Frage und eine Bitte, wandte aber den Kopf ab, als wollte sie einer Antwort ausweichen. Wozu? Der Tod Isabelles befreite sie nicht. Die kleinen Hände Michels hielten sie fest an ihrem Platz. Und sie hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, nachdem Gauthier sich zur Verfolgung Arnauds aufgemacht hatte. Solange er ihr keine Nachricht gab, mußte sie hierbleiben und warten … warten!
Der Herbst ließ das Gebirge in allen seinen Gold- und Purpurfarben leuchten. Die Umgebung Montsalvys bedeckte sich mit gelbroter Pracht, während am Himmel die niedrighängenden Wolken immer grauer wurden und die Schwalben in schnellen, schwarzen Zügen gen Süden flogen. Cathérine folgte ihnen mit den Blicken von der Höhe der Klostertürme aus, bis sie verschwunden waren. Doch bei jedem über ihrem Kopf dahinziehenden Schwarm fühlte sich die junge Frau etwas trauriger, ein wenig entmutigter. Sie beneidete von ganzem Herzen die sorglosen Vögel, begierig nur nach der Sonne, die in die Länder zogen, in die sie ihnen so gern gefolgt wäre!
Nie waren die Tage so langsam, so eintönig vergangen. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es erlaubte, ging Cathérine mit Sara und Michel zum Südportal, wo Mönche und Bauern mit der Ausschachtung des Unterbaues für das neue Schloß begonnen hatten. Auf den Rat des Abtes hatte man beschlossen, die Festung, wo sie früher stand, an den Abhängen des Berges Arbre, nicht wieder aufzubauen, sondern dicht an dem Portal von Montsalvy, wo Schloß und Dorf sich gegenseitig die wirksamste Hilfe geben könnten. Die Verwüstungen durch den alten Praktikus Valette waren noch allen in nachdrücklicher Erinnerung.
Die beiden Frauen und das Kind verbrachten immer ein Weilchen auf der Baustelle und gingen dann weiter, um den Holzhauern bei der Arbeit zuzusehen. Tatsächlich mußte man, nachdem die englische Bedrohung nachließ, im Wald das Land zurückerobern, das man in den Zeiten der großen Not hatte verwildern lassen. Das Unterholz, das so viele Male als Zuflucht gedient hatte, war hochgeschossen und fast undurchdringlich. Man mußte es roden, um Weizen oder Viehfutter zu säen. Aber die Augen Cathérines schweiften immer über die Reihe der dunklen Bäume hinweg, in die weiten blauen Fernen, durch die Arnaud gekommen sein mußte. Dann, die kleine Hand Michels fest in der ihren haltend, ging sie langsamen Schrittes wieder ins Haus zurück.
Und dann, eines Nachts, wurde der Wind zum Sturm und entblätterte die Bäume. Noch eine Nacht, und der Schnee bedeckte das Land. Die Wolken hingen so niedrig, daß sie sich mit der Erde zu vereinen schienen, und die eisigen Frühnebel brauchten lange, um sich aufzulösen. Es war Winter, und Montsalvy legte sich schlafen. Die Arbeit auf der Baustelle des Schlosses ruhte, jedermann schloß sich in die Wärme seines Hauses ein. Cathérine und Sara machten es wie die anderen. Das von der Klosterglocke geregelte Leben verlief in einer hoffnungslosen Monotonie, in der Cathérines Schmerz trotz allem einschlief. Die Tage folgten einander, einer wie der andere. Man saß in der Kaminecke und sah Michel beim Spielen auf einer Decke zu. Das Land war unwandelbar weiß geworden, und Cathérine begann zu zweifeln, ob es in Zukunft noch andere Tage geben würde. Ob der Frühling überhaupt je wiederkäme?
Trotzdem zwang sich die junge Frau, jeden Tag auszugehen. Sie zog sich Überschuhe an, hüllte sich in einen großen Mantel mit Kapuze und verließ das Kloster zu einem Spaziergang, immer dem gleichen … Sie ging bis hinter das Südtor, wenn auch nicht zu dem Zwecke, die Baustelle ihres künftigen Wohnsitzes unter dem Schnee zu betrachten. Sie setzte sich auf einen alten Grenzstein, wo sie lange blieb, unempfindlich gegen Windstöße und den wirbelnden Schnee, und die aus dem Tal des Lot heraufführende Straße beobachtete, mit zäher Hoffnung darauf wartend, endlich eine bekannte Silhouette auftauchen zu sehen. Es war so lange her, daß Gauthier aufgebrochen war! … Weihnachten würden es drei Monate sein! Und niemand war bislang mit der geringsten Nachricht gekommen. Es war, als ob er sich in dieser grenzenlosen Weite aufgelöst hätte … Wenn der Tag sich seinem Ende neigte – die Wintertage sind so kurz! –, kehrte Cathérine langsam nach Hause zurück, das Herz ein wenig schwerer und bekümmerter, ein wenig ärmer an Hoffnung.
Weihnachten ging vorüber, ohne ihr Frieden zu bringen. Ihr Geist schweifte unaufhörlich den Abwesenden nach. Zuerst und vor allem Arnaud! Ohne Zweifel hatte er das Land Galicia erreicht. Aber war ihm vom Himmel die erbetene Heilung zuteil geworden? Und Gauthier? Hatte er den Flüchtigen einholen können? Waren sie in dieser Minute zusammen, in der ihr Geist sie vereint sah? So viele Fragen, die, da sie unbeantwortet bleiben mußten, quälend wurden.
»Wenn der Frühling kommt«, nahm Cathérine sich vor, »und ich bis dahin keine Nachricht erhalten habe, breche ich auch auf … Ich werde sie suchen gehen.«
»Wenn sie zurückkehren, dann im Frühling, nicht früher!« entgegnete Sara eines Tages, als die junge Frau aus Versehen laut gedacht hatte. »Wer würde es sich einfallen lassen, über die Berge zu ziehen, wenn der Schnee die Wege unpassierbar gemacht hat? Der Winter richtet unübersteigbare Schranken auf, die selbst der festeste Wille, selbst die zäheste Liebe nicht überwinden können! Du mußt abwarten!«
»Abwarten! Abwarten! … Immer abwarten! Ich habe es satt, dieses Warten ohne Ende!« hatte Cathérine darauf gerufen. »Bin ich denn verdammt, mein Leben in einer Erwartung ohne Ende verrinnen zu sehen?«
Auf diese Fragen zog Sara es vor, nicht zu antworten. Es war besser, die Unterhaltung abzubrechen oder von anderen Dingen zu sprechen, denn wenn man versuchte, mit Cathérine zu rechten, führte es nur dazu, daß sie sich noch mehr in ihrem Kummer vergrub. Die Zigeunerin glaubte nicht an die Möglichkeit einer Heilung Arnauds. Sie hatte noch nie davon gehört, daß die Lepra, wenn sie jemanden einmal befallen hatte, ihn je wieder losließ. Es war sogar erstaunlich, daß Saint-Méen de Jaleyrac, der heilige Spezialist der furchtbaren Krankheit, immer noch Patienten hatte. Offensichtlich war der Ruf San Jagos von Compostela groß, aber Saras Christentum war noch zu stark vom Heidentum gefärbt, als daß sie großes Vertrauen darin hätte. Im Gegenteil, sie war überzeugt, daß man, wenn nicht ein verhängnisvoller Zufall eintrat, früher oder später Nachricht von Gauthier bekommen würde. Das hinderte sie nicht zu seufzen, wenn sie Cathérines kleine, schwarze und zerbrechliche Silhouette in den Schnee hinausgehen sah, um zu lauern, ob er nicht auf der Talstraße auftauchte.
Eines Abends im Februar, nachdem die junge Frau ihren Beobachtungsposten eingenommen hatte, nach einer durch den Frost erzwungenen beschwerlichen Zeit des Klosterlebens, schien es ihr plötzlich, als könnte sie einen dunklen Punkt auf dem weißen Weg erkennen, einen Punkt, der unter den hohen schwarzen Tannen langsam größer wurde. Sofort stand sie auf, mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem … Es war bestimmt ein Mann, der aus dem Tal herauskam … Sie konnte einen Streifen des großen Mantels, der ihn einhüllte, im Wind flattern sehen. Er ging mühselig zu Fuß, den Rücken unter dem Nordwind gebeugt … Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte ihm entgegen, aber als sie am Rand der Bäume angekommen war, blieb sie enttäuscht stehen. Das war nicht Gauthier … noch viel weniger Arnaud. Der Mann, den sie jetzt leicht ausmachen konnte, war von kleinem Wuchs, offenbar schmal und sehr braun. Einen Augenblick glaubte sie, es sei Fortunat, aber diese Hoffnung zerrann sofort. Der Reisende war ihr vollkommen unbekannt!
Er trug einen grünen Hut, dessen vorn heruntergeklappter Rand hinten hochgeschlagen war und eine Feder trug, die fast nur noch aus dem Kiel bestand, aber das braune Gesicht darunter hatte lebhafte und fröhliche Augen, und der große, geschwungene Mund lächelte, als er die weibliche Silhouette am Wegrand entdeckte. Cathérine konnte sehen, daß sein Rücken unter dem Mantel durch einen ovalen Gegenstand, den er auf der Schulter tragen mußte, entstellt war.