»Was ist das für eine Frage! Es wäre wahrhaftig das erstemal, daß ich dir etwas verweigerte. Und außerdem gibt es gar keine andere Wahl! … Gott weiß, was mich das kostet; trotzdem …«
Als Sara die Tür öffnete, um mit ihrer Wärmpfanne in die Küche zu gehen, drang die Stimme Guido Cigalas in die kleine Kammer. Er sang jetzt ein altes Lied des Troubadours Arnaud Daniel, und die Worte des alten Laienbruders trafen die beiden Frauen derart, daß sie einen Augenblick unbeweglich stehenblieben und sich wortlos ansahen.
»Eher verkauft sich das Gold so billig wie Eisen, als daß Arnaud seine Herzliebste vergißt …«
Cathérine war plötzlich wie vom Blitz getroffen. Sie war blaß geworden, bis zu den Lippen, aber in ihren dunklen Augen blitzten Sterne, die funkelnden Sterne der Hoffnung. Die Stimme des Minnesängers antwortete auf geheimnisvolle Weise auf Fragen, die sie sich nicht mehr zu stellen wagte. Sara drückte die Wärmpfanne leidenschaftlich ans Herz.
»Ich möchte bloß wissen, wer uns diesen verdammten Sänger schickt? Der Teufel! Oder der liebe Gott? Auf jeden Fall hat er eine Stimme, die mir sehr dem Schicksal zu ähneln scheint …«
Cathérine hatte richtig geschätzt, als sie annahm, daß der Abt von Montsalvy sie nicht hindern würde, sich zum Osterfest auf den Berg von Velay zu begeben. Er begnügte sich lediglich damit, ihr als Begleitung Bruder Eusebius, den Pförtner des Klosters, anzubieten, denn es schickte sich nicht, daß eine Edeldame sich allein auf die Straßen begab. Die Gesellschaft eines Mönches würde Gefahren, sowohl irdische wie geistige, von ihr fernhalten.
»Bruder Eusebius ist ein sanfter Mann von friedlicher Lebensart«, sagte der Abt, »aber er wird Euch nicht weniger wirksamen Schutz gewähren.«
Um die Wahrheit zu sagen, war Cathérine von der Begleitung des würdigen Pförtners gar nicht entzückt. Seine runde, rosige Gestalt schien ihr zu arglos, und sie hatte gelernt, allem zu mißtrauen. Sie fragte sich, ob der Abt Bernard, indem er ihn ihr als Leibwächter mitgab, ihr nicht auch eine Art Spion an die Seite stellte, der ein neues Problem aufwerfen würde: Wie, einmal auf dem Berg angelangt, könnte sie sich von dem heiligen Mann befreien und ihn überreden, ohne sie nach Montsalvy zurückzukehren?
Aber die Schwierigkeiten ihres vergangenen Lebens hatten die junge Frau gelehrt, daß jeder Tag seine eigenen Probleme hatte und daß es nichts nützte, sich im voraus Sorgen zu machen. Zu gegebener Zeit würde sie ein Mittel finden, ihrem Schutzengel zu entwischen. Und sie dachte nur noch an diese große Reise, die sie mit unendlich mehr Liebe als Hoffnung antreten würde.
Mit der Fastenzeit brach auch die weiße Kruste, die das Land bedeckte, wie von einem Kanonenschlag auf. Schnee und Glatteis schmolzen zu einer großen Zahl dünner Bäche, die nach allen Richtungen flossen und das Hochplateau und die Gebirgsschluchten wie ein Schweif aus Silberfäden durchzogen. Die Erde trat zuerst wieder als schwarze Flecken, dann als große Flächen zutage, die zaghaft grünten. Ein wenig Blau zerriß das ewige Öde Grau des Himmels, und Cathérine dachte, die Zeit sei jetzt gekommen, sich auf den Weg zu machen.
Mittwoch nach dem Passionssonntag verließen Cathérine und Bruder Eusebius Montsalvy, beide auf Maultieren, die der Abt ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Das Wetter war mild, leicht regnerisch, und die Wolken eilten, vom Südwind getrieben, schnell am Himmel dahin. Dem Wind, der, nach Saturnin, »den Schafen die Drehkrankheit gab …«
Der Abschied zwischen Cathérine und Sara war schnell gewesen. Die eine wie die andere vermied einstimmig die Rührseligkeit, die mutlos macht und den Willen schwächt. Außerdem hätte ein herzzerreißender Abschied gewiß den Argwohn des Abtes Bernard erregt. Man weinte nicht wegen einer vierzehntägigen Trennung …
Das Schlimmste war der Abschied von Michel. Mit vor zurückgehaltenen Tränen schweren Augen konnte Cathérine sich nicht genugtun, ihren kleinen Knaben zu umarmen. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Arme sich nie mehr öffnen könnten, um ihn loszulassen. Sara mußte ihn hochheben und ihn in die Obhut Donatiennes geben. Von der Bewegung seiner Mutter überwältigt, fing das Kind auch, ohne zu wissen, warum, zu weinen an.
»Wann werde ich ihn wiedersehen?« murmelte Cathérine, die sich mit einemmal furchtbar elend fühlte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte in ihrem großen Kummer das ganze verrückte Unternehmen aufgegeben.
»Wenn du willst«, sagte Sara seelenruhig, »wird dich nichts hindern zurückzukehren, falls du dein Ziel nicht erreichst. Und ich flehe dich an, Cathérine, versuche Gott nicht! Überschätze deine Kräfte nicht. Es gibt Fälle, wo es besser ist, sich in sein Schicksal zu fügen, auch wenn es grausam ist. Bedenke, daß nichts, obgleich ich hier bin, eine Mutter ersetzen kann! – Wenn die Hindernisse zu groß sind, komm zurück, ich beschwöre dich! … Und um der Liebe Gottes willen …«
»Um der Liebe Gottes willen«, schnitt Cathérine ihr das Wort, unter Tränen lächelnd, ab, »sag nichts weiter! Sonst habe ich in fünf Minuten nicht den geringsten Mut mehr.«
Doch als die Pforten der Abtei sich vor den Hufen ihres Maultiers öffneten, empfand Cathérine ein außerordentliches Freiheitsgefühl, eine Art Rausch. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie in den kommenden Tagen erwartete. Ihr Wille mußte über alle Hindernisse und Fallen triumphieren. Sie fühlte sich stärker, jünger und tapferer als je …
An ihrer Kehle, in einem Lederbeutelchen, das sie mit einem Band um den Hals befestigt hatte, trug sie den schwarzen Diamanten! Er hatte in ihren Augen fast jeden Wert verloren, mit einer Ausnahme! Er war der Schlüssel, der ihr das weite Land öffnete! Wenn sie ihn der Jungfrau vom Berge anbot, so hieß das gleichzeitig freie Bahn auf dem langen Weg, der sie vielleicht zu ihrem Gatten führte.
Als sie die Mauern von Montsalvy hinter sich gelassen hatte, warf Cathérine sich den großen, weiten Mantel über die Schultern, mit der uralten Geste des Hausierers, der sein schweres Los auf sich nimmt. Dann hob sie den Kopf. Ungerührt von dem sie noch lange begleitenden Klang der Glocken, die Augen fest auf das noch kurze Grün des Weges geheftet, ritt sie dahin, ohne Schwäche und ohne Tränen.
Siebzehntes Kapitel
Le Poy-en-Velay! Eine Stadt, die sich wie ein Strom, riesig und vielfarbig, um den Berg herumwand, mit einer großen, von Kuppeln und Türmen gekrönten romanischen Kirche. Als Cathérine und Bruder Eusebius ankamen, hielten sie einen Augenblick an, um das unglaubliche Bild zu betrachten, das sich ihnen bot. Die erstaunten Augen der jungen Frau schweiften von dem heiligen Hügel, dem alten Berg Anis, der sich von dem fernen Blau des gewellten Landes abhob, zu dem riesigen, ihm benachbarten Felsen und weiter zu der seltsam vulkanischen Spitze von Saint-Michel d'Aiguillie, steil wie ein Finger zum Himmel aufragend und die kleine Kapelle fest in sich verankernd.
Alles in dieser fremden Stadt schien für den Dienst an Gott gemacht zu sein, alles kam von ihm oder kehrte zu ihm zurück …
Aber je mehr Tore sie durchritten und je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr verwunderte die Reisenden die Farbenpracht der Straßen und ihr Gedränge, überall sah man nur Fahnen, Lilienbanner, mit Seidentüchern geschmückte Fenster … überall war das königliche Wappen Frankreichs zur Schau gestellt, und mit einer gewissen Verblüffung sah Cathérine plötzlich vor sich einen Trupp lärmender schottischer Armbrustschützen mit ihren Waffen vorbeiziehen.
»Die Stadt feiert ein Fest!« erklärte Bruder Eusebius, der sonst während eines ganzen Tages keine zehn Worte sprach. »Wir müssen herausbekommen, warum.«
Cathérine hatte sich in seiner Gesellschaft aufs Schweigen verlegt. Sie hielt es für überflüssig zu antworten, rief aber einen kleinen Jungen an, der mit seinem Krug einem nahen Brunnen zustrebte, um Wasser zu schöpfen.