»Warum diese Fahnen, diese Behänge, das ganze Gedränge?«
Der Junge hob sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht, in dem zwei haselnußbraune Augen fröhlich blitzten, zu der jungen Frau und zog höflich die ausgefranste grüne Mütze.
»Unser Herr König ist vorgestern mit der Frau Königin und dem ganzen Hof in die Stadt eingezogen, um zu Unserer Lieben Frau zu beten und Ostern zu feiern und dann nach Vienne zu gehen, wo die Stände sich versammeln … Wenn Ihr ein Logis sucht, werdet Ihr's schwer haben. Alle Herbergen sind voll, denn zu allem hin heißt es, daß Monseigneur der Konnetabel heute hier eintreffen soll.«
»Der König und der Konnetabel?« fragte Cathérine erstaunt. »Aber sie sind doch verfeindet.«
»Genau! Unser Herr hat die Kathedrale erwählt, um ihn da wieder in Gnaden zu empfangen. Sie werden heute nacht zusammen den Abend des Passahfestes begehen …«
»Versammeln sich die Pilger nicht hier, die bald nach Compostela aufbrechen werden?«
»Doch, gnädige Dame! Das Städtische Hospital neben der Kathedrale ist voll von ihnen. Ihr müßt Euch beeilen, wenn Ihr Euch ihnen noch zugesellen wollt.«
Das Kind zeigte Cathérine noch den Weg zum Hospital. Es war ganz einfach: Es genügte, die lange, lange Straße weiterzureiten, die vom Panessacturm, in dessen Nähe sie sich befanden, nach Notre-Dame hinaufführte und schließlich in einer Treppe endete, einer Treppe, die unter dem Portalvorbau mündete. Ehe er seine Gesprächspartnerin verließ, fügte der Junge noch hinzu:
»Alle Pilger versorgen sich bei Meister Croizat, gleich neben dem Städtischen Hospital. Dort gibt es die haltbarsten Kleider für die große Reise und …«
»Ich danke dir«, unterbrach Cathérine, als sie das Auge des Bruders Eusebius, das gewöhnlich ohne jeden Ausdruck war, mit Neugier auf sich ruhen sah. »Wir werden uns ein Logis suchen.«
»Gott helfe Euch, eins zu finden! Aber Ihr habt keine Chance. Selbst das Palais des Bischofs, Monseigneurs Guillaume de Chalençon, ist zum Platzen voll. Der König hält dort Hof.«
Der Lausejunge rannte davon. Cathérine überlegte einen Augenblick. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Morgen nach dem Hochamt brachen die Pilger auf, und sie wollte mit ihnen gehen. Sie ließ sich von ihrem Maultier gleiten und wandte sich an Bruder Eusebius, der gelassen ihre Entscheidung erwartete.
»Nehmt die Tiere, mein Bruder, und geht ohne mich zum Städtischen Hospital. Dort fragt, ob man uns freundlicherweise ein Logis geben wolle. Hier habt Ihr Gold, um unsere Zeche zu bezahlen. Was mich betrifft, möchte ich sofort zur Kathedrale hinaufsteigen, zum Ziel unserer Pilgerfahrt. Ich habe Eile, Unserer Lieben Frau zu überreichen, was ich für sie bei mir trage, und es schickt sich nicht, daß ich mich dem heiligen Ort beritten nähere. Geht also ohne mich. Ich werde Euch später wieder treffen.«
Der würdige Bruder Pförtner von Montsalvy begnügte sich, durch ein Zeichen des Kopfes anzudeuten, daß er verstanden habe, nahm die Zügel ihres Maultiers und ritt ruhig seines Weges.
Langsam ging Cathérine die beflaggte Straße mit den zahlreichen Schildern hinauf. Händler mit Devotionalien wechselten mit Herbergen ab, mit Garküchen, mit Verkaufsbuden aller Art, und auf den Steinstufen vor ihren Türen saßen Frauen, vor sich mit Fäden bespannte Kissen, und ließen in ihren flinken Fingern eine Menge kleiner Spindeln hüpfen … Einen Augenblick blieb die Reisende vor einer dieser Spitzenklöpplerinnen stehen, die jung und hübsch war und ihr, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, freundlich zulächelte.
Sie wäre keine echte Frau gewesen, wenn die zierlichen Wunder, die unter den Feenfingern entstanden, nicht ihr Interesse erregt hätten. Doch eine Büßerprozession zog, mit voller Stimme Litaneien singend, von der Kathedrale herunter, und Cathérine, an ihr Gelübde erinnert, machte sich wieder an ihren Aufstieg. Und je weiter sie ging, desto mehr vergaß sie allmählich ihre Umgebung.
Auf den Stufen der riesigen Treppe, die sich tief im Schatten der hohen romanischen Bogen verlor, staffelten sich die Menschen und stiegen mühsam auf Knien die seit Jahrhunderten durch Inbrunst abgetretenen Stufen hinauf. Das Gemurmel der Anrufungen umgab Cathérine wie Bienensummen, aber sie hörte es gar nicht. Mit erhobenem Haupt sah sie die hohe, vielfarbige Fassade, auf der fremde arabische Muster die fernen Länder, die geheimnisvollen Kunsthandwerker aus uralter Zeit in Erinnerung riefen. Sie wollte nicht niederknien, nicht jetzt! Aufrecht ging sie dem Hochaltar zu, wie sie sich aufrecht der Gruft des Apostels nähern würde. Der Schatten des Portalvorbaus verschlang sie. Bettler, echte oder falsche Krüppel schleppten sich dahin, in monotonem Singsang um Almosen bittend. Andere umlagerten den uralten Stein des Fiebers, wo sich jeden Freitag die Kranken einfanden, lauthals verkündend, erst am Abend vor Karfreitag habe ein Lahmer den Gebrauch seiner Beine wiedererlangt. Aber Cathérine schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
Ihr Blick war auf eine Stufe gerichtet, auf der Höhe der großen vergoldeten Pforten der Hochaltarstätte gelegen. Einige lateinisch geschriebene Worte waren da zu lesen: »Wenn du die Sünde nicht fürchtest, so fürchte diese Schwelle, denn die Himmelskönigin will Diener ohne Fehl.« Näherte sie sich wirklich ohne Sünde, sie, die um den Preis einer Lüge ihre Freiheit erringen wollte? Sie blieb einen Augenblick bewegungslos stehen, die Inschrift betrachtend, das Herz von plötzlicher Bangigkeit bedrückt. Doch ihr Elan war zu groß, als daß sie sich durch solche Bedenken hätte hemmen lassen. Sie durchschritt die Pforten und setzte ihren Aufstieg im tiefen Dunkel der Kirche fort. Die Stufen stiegen zu einer Art Tunnel an, in dessen Hintergrund die Kerzen bis zum Chor des Hochaltars schimmerten. Oben war es wie die leuchtende Herrlichkeit der Morgenstunde am Ende einer schwarzen Nacht. Ein ernster Gesang, unheimlich und monoton, erfüllte das Steinschiff.
Als sie endlich aus dem Dunkel trat, glaubte Cathérine, diese Welt verlassen zu haben, so fremd war der Dekor. Auf einem zwischen zwei Säulen aus blutrotem Porphyr errichteten Altar, mit einer Vielzahl von Kerzen und Lampen aus rotem Glas umgeben, sah die Schwarze Jungfrau sie aus Emailaugen an …
Der Chor war leer, aber an den Wänden schienen hierarchische und byzantinischen Fresken entnommene Personen in dem zitternden Licht der kurzen Flammen wieder Leben anzunehmen. Eine abergläubische Furcht bemächtigte sich Cathérines, die alte Angst vor Himmel und Hölle, die immer im Grunde der Herzen der Männer und Frauen dieses eisernen Jahrhunderts schlummerte. Langsam beugte sie die Knie und ließ sich auf die Stufen des Altars fallen, durch das fremde Standbild fasziniert.
Klein, aufrecht auf ihrem mit Edelsteinen besetzten goldenen Mantel sitzend, hatte die Schwarze Jungfrau das hierarchische und erschreckende Aussehen eines barbarischen Idols. Es hieß, die Kreuzfahrer hätten sie einst aus dem Heiligen Land mitgebracht und sie sei so alt wie die Welt … Ihr schwarzes, plumpes Gesicht mit dem starren Ausdruck schimmerte unter der durch eine Taube verzierten Goldkrone. Nur die zu weißen Augen aus Email schienen von unruhigem Leben beseelt, und Cathérine begann, unter ihrem Blick zu zittern, von der barbarischen Majestät des Standbilds erdrückt.
Der unheimliche Gesang hatte aufgehört. Stille hüllte die Kirche jetzt ein, die nur durch das leichte Flackern der Kerzen gestört wurde. Langsam nahm Cathérine den Lederbeutel vom Hals, zog den Diamanten heraus und reichte ihn auf ihren beiden zusammengelegten Handflächen der Jungfrau. Die uralte Geste des Opfers ließ den verfluchten Stein voll blutigen Feuers funkeln. Noch nie hatte er so geblitzt wie in diesem Sanktuarium, in dem sich die Größe Gottes entfaltete. Auf Cathérines Händen war er wie eine schwarze, der Gottheit gebotene Todessonne.
»Allmächtige Jungfrau«, hauchte die junge Frau, »nehmt diesen Stein des Schmerzes und des Blutes an! Nehmt ihn zu Euch, auf daß ihn der Dämon, der ihm innewohnt, auf immer verlasse, nehmt ihn, auf daß das Unglück sich endlich von uns wende … und das Glück wieder in Montsalvy einkehre! Auf daß ich meinen Gatten wiederfinde!«