Sanft legte sie den Stein zu Füßen des Standbildes und warf sich dann nieder. All ihre Angst war verflogen, doch sie wurde von einer neuen Erregung ergriffen.
»Gebt ihn mir zurück!« flehte sie schmerzlich. »Gebt ihn mir, barmherzige Jungfrau! … Selbst wenn ich noch viel leiden muß, wenn ich mich Tag und Nacht abmühen muß … Macht, daß ich ihn am Ende des Weges endlich finde! Erlaubt wenigstens, daß ich ihn wiedersehe … ein Mal, ein einziges Mal … auf daß ich ihm sagen kann, daß ich ihn liebe, daß ich nie aufgehört habe, ihm zu gehören, und daß niemand … je … seinen Platz einnehmen wird! Habt Mitleid … o habt Mitleid! Laßt mich ihn wiederfinden … Danach könnt Ihr mit mir machen, was Ihr wollt!«
Sie barg das Gesicht in den Händen, die bald von ihren Tränen benetzt wurden, und blieb so einen langen Augenblick, für ihr Kind und Sara betend, still weinend und unbewußt eine Antwort auf ihre heiße Bitte erwartend. Und plötzlich hörte sie:
»Frau … habt Vertrauen! Wenn Euer Glaube groß ist, werdet Ihr erhört werden.«
Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Mönch in einer langen weißen Kutte, den grauen Kopf und sein von Milde strahlendes Gesicht ihr zuneigend. Von dieser weißen Gestalt ging ein solcher Friede aus, daß Cathérine überwältigt vor ihm auf den Knien blieb, die Hände gefaltet wie vor einer Erscheinung. Der Mönch streckte seine blasse Hand nach dem neben dem Goldmantel der Jungfrau blitzenden Stein aus, berührte ihn aber nicht.
»Dieses fabelhafte Juwel, woher habt Ihr es?«
»Es gehörte meinem verstorbenen Gatten, dem Finanzminister von Burgund.«
»Ihr seid Witwe?«
»Ich war es nicht mehr. Aber der Mann, den ich geheiratet habe, ist, von der Lepra heimgesucht, nach Compostela aufgebrochen, um seine Heilung zu erflehen, und ich möchte auch dorthin gehen, um ihn wiederzufinden!«
»Habt Ihr Euch einen Platz unter den Pilgern besorgt? Ihr braucht einen Beichtzettel und die Genehmigung des Leiters der Fahrenden Ritter Gottes. Sie brechen morgen auf.«
»Ich weiß … aber ich bin soeben erst angekommen. Glaubt Ihr, mein Vater, daß es zu spät ist?« fragte Cathérine mit plötzlicher Angst.
Ein gütiges Lächeln erhellte das Gesicht des weißen Mönches.
»Ihr habt den sehnlichen Wunsch zu gehen, nicht wahr?«
»Ich wünsche es mehr als alles in der Welt.«
»Also kommt! Ich werde Euch die Beichte abnehmen und Euch dann einen Zettel für den Prior des Städtischen Hospitals mitgeben.«
»Habt Ihr denn die Macht, mir noch so spät Einlaß zu verschaffen?«
»Es gibt keine festgesetzte Stunde, in der man sich Gott nähern kann! Und ich bin Guillaume de Chalençon, Bischof dieser Stadt. Kommt, meine Tochter.«
Das Herz von wunderbarer Hoffnung durchdrungen, folgte Cathérine der weißen Gestalt des Prälaten.
Als Cathérine die Kirche verließ, schien sie förmlich zu schweben. Sie hatte das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ihre Hoffnungen ihre ganze Kraft wiederfänden, daß nichts mehr unmöglich sein würde.
Man brauchte nur Mut zu haben, und Mut hatte sie von jetzt an übergenug.
Am Eingang des Städtischen Hospitals, dessen hohes, spitzbogiges Portal, von zwei Steinlöwen bewacht, sich auf die Stufen der Kathedrale öffnete, fand sie Bruder Eusebius wartend vor, der, auf einem Eckstein sitzend, still den Rosenkranz betete. Als er sie bemerkte, sah er sie unglücklich an.
»Dame Cathérine, es gibt keinen Platz in den Schlafsälen. Die Pilger schlafen im Hof, und ich habe nicht einmal einen Strohsack für Euch auftreiben können. Ich kann ja immer in einem Kloster Unterkunft bekommen, aber Ihr?«
»Ich? Das ist unwichtig. Ich werde auch im Hof schlafen, mit den anderen. Übrigens, Bruder Eusebius, es ist Zeit, daß ich Euch zu dieser Stunde die Wahrheit gestehe. Ich werde nicht mit Euch nach Montsalvy zurückkehren. Morgen werde ich mit den anderen Pilgern nach Compostela aufbrechen … Nichts kann mich daran hindern. Aber ich möchte Euch wegen des Ärgers, den ich Euch verursachen werde, um Verzeihung bitten. Der Herr Abt …«
Ein breites Lächeln hellte das runde Gesicht des kleinen Mönchs auf. Unter seiner Kutte zog er eine Pergamentrolle hervor und gab sie Cathérine.
»Unser Sehr Ehrwürdiger Vater Abt«, unterbrach er, »hat mich beauftragt, Euch dies zu überreichen, Dame Cathérine. Aber ich sollte es Euch erst geben, nachdem Ihr Euer Gelübde erfüllt habt. Es ist erfüllt, nicht wahr?«
»Es ist erfüllt!«
»Also, hier!«
Mit zögernder Hand nahm Cathérine die Rolle, brach das Siegel auf und entfaltete sie.
Sie enthielt nur wenige Worte, aber während sie las, stieg ihr die Freudenröte ins Gesicht.
»Geht in Frieden«, hatte Bernard de Calmont geschrieben. »Und Gott begleite Euch! Ich werde über das Kind und Montsalvy wachen …«
Der Blick, den sie dem Bruder Pförtner zuwarf, war glückstrahlend. In ihrer Begeisterung küßte sie die Unterschrift des Briefes, bevor sie ihn in ihren Almosenbeutel steckte, dann streckte sie ihrem Gefährten die Hand hin.
»Hier trennen wir uns nun. Kehrt nach Montsalvy zurück, Bruder Eusebius, und sagt dem Sehr Ehrwürdigen Abt, daß ich mich schäme, ihm nicht genügend Vertrauen geschenkt zu haben, aber daß ich ihm danke. Bringt ihm die Maultiere zurück, ich brauche sie nicht. Ich werde meinen Weg wie die anderen zu Fuß zurücklegen.«
Dann wandte sie sich um und ging schnell davon, leicht wie ein befreiter Vogel, zur anderen Seite der Straße, wo ein schönes Schild hing, das einen Pilger mit einem großen Hut, den Stab in der Hand, zeigte und allen verkündete, daß für ›Die Straße nach Compostela‹ Meister Croizat eine Ausstattungsboutique für die fromme Reise unterhalte.
Die zum Aufbruch Gerüsteten zählten an die fünfzig, Männer und Frauen, aus der Auvergne, der Franche-Comté und sogar aus Deutschland. Sie gruppierten sich nach Herkunft oder geistiger Verwandtschaft, doch einige blieben für sich, zogen ihre Einsamkeit und ihre eigene Gesellschaft vor.
Inmitten ihrer neuen Gefährten wohnte Cathérine dem österlichen Hochamt bei. Sie sah nur einige Schritte von sich entfernt König Karl VII. vorübergehen und den hohen Sessel einnehmen, der für ihn im Chor aufgestellt war. Neben ihm erkannte sie die mächtige Gestalt Arthur de Richemonts. Der Konnetabel von Frankreich nahm an diesem Ostertag seinen Rang und sein Amt offiziell wieder ein. Zwischen seinen kräftigen Händen sah die junge Frau den großen blauen, mit goldenen Lilien verzierten Degen blitzen.
Sie sah auch die Königin Marie, und im Gefolge Richemonts entdeckte sie die hohe Gestalt Tristan l'Hermites … Tristan, ihr letzter Freund!
Die Versuchung war groß, die schweigenden Reihen, die sie umgaben, zu durchbrechen, zu ihm zu gehen … Es wäre gut, seine Freudenrufe zu hören, alte Erinnerungen aus vergangenen Tagen wachzurufen …
Aber sie unterdrückte ihre Regung. Nein … sie gehörte nicht mehr zu dieser glänzenden, farbigen, prunkvollen Welt. Zwischen ihr und dieser Welt stand jetzt das Versprechen vom Abend zuvor, die weiße Kutte dieses Bischofs, der da unten im erleuchteten Chor die Messe in vollem Ornat zelebrierte. Die unsichtbare Schranke, die sie von diesem Hof trennte, zu dem sie von Rechts wegen noch gehörte, wollte Cathérine nicht durchbrechen. Die Zukunft lag woanders, und weit davon entfernt, sich zu zeigen, machte sie sich ganz klein inmitten ihrer Nachbarn, zwischen einem riesigen, angegrauten und bärtigen Burschen, der mit einer Stimme wie eine große Orgel sang, und einer hageren, blassen Frau, deren fanatischer Blick am schimmernden Altar hing. Als sie sie betrachtete, schwankte Cathérine zwischen Mitleid und Abscheu, aber sie bezweifelte, ob diese Frau, die offensichtlich krank war und von Zeit zu Zeit einen trockenen, dumpfen Husten hören ließ, die Anstrengungen der Wallfahrt aushalten könnte.