Was sie betraf, wer hätte denn die Gräfin de Montsalvy, die schöne Witwe von Chinon, die von Pierre de Brézé angebetet worden war, wer hätte sie in dieser Frau, die wie alle ihre Gefährten gekleidet war, erkannt? Ein grobes graues Kleid aus dickem Wollstoff über einem Linnenhemd, feste Stiefel, ein weiter, jedem Wind und Wetter gewachsener Mantel und über dem dünnen, feinen Kopftuch, das ihr Gesicht umschloß, ein großer schwarzer Filzhut, dessen Krempe vorn durch eine Muschelspange aus Zinn aufgebogen wurde. Im Almosenbeutel an ihrem Gürtel hatte sie Gold und natürlich Arnauds Dolch, ihren treuen Kameraden in schweren Tagen und auf gefährlichen Reisen. Schließlich hielt sie in der rechten Hand das Sinnbild des Pilgers, den berühmten Pilgerstab, den langen Stock, an dessen Spitze ein runder Kürbis hing … Nein, niemand hätte sie in diesem Aufzug erkannt, und Cathérine freute sich darüber. Sie war nur eine Pilgerin unter anderen Pilgern …
Die Zeremonie ging ihrem Ende zu. Die ernste Stimme des Bischofs hatte seine guten Reisewünsche an die Aufbrechenden ausgesprochen. Jetzt segnete er die Pilgerstäbe, die ihm alle mit derselben Bewegung entgegenstreckten. Die Priester, die, das große Kreuz der Prozession vorantragend, dem Zug das Geleit bis zu den Stadttoren geben wollten, setzten sich bereits in Bewegung. Cathérine warf noch einen letzten Blick auf den Chor, schloß in diesen Blick auch den König, den Konnetabel, den von Bewaffneten bewachten glänzenden Hof ein. Sie schienen sich bereits in die Zeit, in die nebelhafte Welt der Wunder zurückzuziehen. Ganz oben, alles beherrschend, konnte sie Garins verfluchten Diamanten am goldenen Stirnband der starren kleinen Jungfrau im goldenen Mantel schwarze Funken sprühen sehen. Die großen Portale öffneten sich ins Freie, auf einen blaßblauen Himmel, über den die Wolken eilten …
Auf der Schwelle hob Cathérine die Brust und holte tief Atem. Sie hatte das Gefühl, daß diese Pforten sich ins Unendliche öffneten, auf eine Hoffnung, so groß wie die ganze weite Welt …
Hinter den Priestern und Mönchen stürzten die Pilger, Freudenrufe ausstoßend, die abschüssige Straße hinunter. Auf beiden Seiten drückten sich die guten Leute an die Häuser, um sie vorbeigehen zu sehen. Einige riefen ihnen gute Wünsche zu, andere sagten einem Freund, einem Verwandten ein letztes Lebewohl.
Nachdem die Granitwälle, auf denen die königlichen Lilienbanner knatterten, durchschritten waren, trennte sich die letzte Eskorte von den Pilgern. Vor der Kolonne wand sich ein steiler Weg einen Berghang hinauf, der wie die Himmelsleiter aussah. An der Spitze stimmte der Führer der Pilger, ein kräftiger Bursche mit feurigen Augen, mit kraftvoller Stimme das alte Marschlied an, das schon so viele durch zu lange Wegstrecken Entmutigte wiederaufgerichtet hatte, den fremden Gesang in alter Sprache, der einen so guten Takt für den Marschtritt abgab:
»E ul treia! (Und weiter!) E sus eia! (Und noch mal!) Deus aîa nos! (Gott hilft uns!)«
Das einfache, rhythmische Lied hob den Marschtritt gut hervor. Es pflanzte sich durch die Reihen der Pilger wie ein Lauffeuer fort. Cathérine stimmte es wie die anderen an. Ihr Herz war leicht, ihre Seele in Frieden, ihre Energie stärker als je. Hinter ihr, in der Stadt, die schon langsam verschwand, läuteten die Glocken mit voller Kraft. Ihr Siegesklang löschte die grausame Erinnerung an die Totenglocke von Carlat aus, die so lange in ihrem Herzen widergehallt hatte. Am Ende dieses vor ihr liegenden Weges war Cathérine gewiß, durch einen ebenso großen Glauben über sich selbst erhoben wie jener, der einst die Kreuzfahrer zur Eroberung des Heiligen Landes getrieben hatte, daß sie Arnaud antreffen würde! Und wenn sie bis ans Ende der Welt gehen müßte, um ihn zu finden, und sei es auch nur, um mit ihm zu sterben, würde sie bis dorthin gehen …
Oben, nach dem beschwerlichen Aufstieg, empfing ein scharfer, schneidender Wind und feiner, kalter Regen, der in die Gesichter peitschte, die Pilger beim Betreten des Plateaus. Cathérine senkte den Kopf, um sich zu schützen, und ging, auf ihren Stab gestützt, dem Wind entgegen. Aber weil sie den Elementen nicht das letzte Wort in diesem ersten Handgemenge lassen wollte, sang sie lauter als je. Dieser Wind, das war der Südwind. Er war vor ihr durch die unbekannten Lande gefegt, in die sie, Tag um Tag, weiter vordringen würde, um endlich ihre verlorene Liebe wiederzufinden … Er war ihr Freund!