Eine Zorneswelle schwoll in Cathérines Herzen. Sie war unfähig, sich so etwas wortlos mit anzusehen. Ihre nervöse Hand griff nach dem Dolch Arnauds in ihrem Gürtel. Ehe Bruder Etienne dazwischentreten konnte, hatte sie ihn gezogen und sprang mit hoch erhobener Klinge auf den Mann mit der Lanze zu. Sie erwog nicht ihre geringen Kräfte, dachte nicht einmal an die Zahl der Bewaffneten. Sie war einfach ihrem Impuls gefolgt, weil sie nicht anders konnte … vielleicht, weil sie nicht mehr mit anzusehen vermochte, daß die Schwachen immer brutal behandelt und unterdrückt wurden.
Im Augenblick hatte sie den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Der Dolch bohrte sich in die Schulter des Soldaten, der aufschrie und, das Gleichgewicht verlierend, zu Boden stürzte; an ihn geklammert wie eine wutfauchende Katze, fiel Cathérine über ihn.
»Du Schweinehund! Dir wird nicht mehr genug Zeit zum Leben bleiben, um noch mehr Greise zu töten!«
Wie der Stachel einer Wespe fuhr ihr Dolch immer wieder aufs Geratewohl auf den Mann nieder, der wie ein abgestochenes Schwein schrie, ohne sich wirkungsvoll verteidigen zu können. Die Wut verlieh der jungen Frau unüberwindliche Kräfte. Doch die anderen Bewaffneten hatten sich bald gefaßt und fielen jetzt gleich einem Fliegenschwarm über sie her.
»Auf den Schotten!« rief einer von ihnen. »Tötet ihn! Tötet ihn!«
Dieser Ruf rettete Cathérine, denn vom anderen Ufer antwortete ihm ein anderer:
»Vorwärts, im Namen Saint-Andrés!«
Die Goldwäscher hatten eben noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, über das schäumende Wasser stürmte ein Reitertrupp und fiel mit erhobenen Degen über die Wachen her. Cathérine, bereits von einem Dutzend Fäuste gepackt, kam unversehens frei und sprang auf die Füße. Ihre Hände waren mit Blut verschmiert, und der Mann unter ihr, den sie so heftig angegriffen hatte, atmete nicht mehr. Regungslos, mit weit aufgerissenen Augen gegen den niedrigen Himmel starrend, lag er ausgestreckt auf dem mit Schmutz und Blut besudelten Schnee. Cathérine begriff, daß sie ihn getötet hatte, doch seltsam, sie empfand keine Abscheu, keine Gewissensbisse. Die Wut kochte noch in ihr. Kalt tauchte sie ihren Dolch in die Jordanne und schob ihn wieder in den Gürtel zurück. Dann warf sie einen Blick um sich. Der Kampf zwischen den Wachen von Aurillac und der unerwartet eingetroffenen Hilfe war noch in vollem Gange, näherte sich aber seinem Ende. Im Handgemenge erkannte sie Gauthier, der neben einem großen blonden Schotten kämpfte. Um sie herum fochten etwa zehn Soldaten der Hochebenen energisch: MacLaren und seine Männer. Das Herz ging der jungen Frau vor Freude auf:
»Gott sei gepriesen! Er hat sie wiedergefunden!«
Am Flußufer entlanglaufend, wo die bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehenden Goldwäscher bestürzt und entsetzt zusahen, stieß sie wieder zu Bruder Etienne und Sara, die sich, so gut sie konnten, an einer zerfallenen Mauer in Sicherheit gebracht hatten. Sara stürzte sich auf die junge Frau wie eine Tigerin, die ihr Junges wiedergefunden hat, umarmte sie, bis sie fast erstickte, schluchzte unaufhörlich, dann gab sie ihr mit aller Gewalt eine schallende Ohrfeige.
»Du Wahnsinnige! Willst du, daß ich vor Kummer noch sterbe?«
Cathérine wankte unter dem Schlag und griff sich an die Wange. Sie kochte vor Wut, aber schon warf Sara sich ihr zu Füßen und bat um Verzeihung, Tränenströme vergießend, die das Maß ihrer ausgestandenen Furcht ahnen ließen. Cathérine hob sie auf, drückte sie fest an sich und streichelte den Kopf der armen Frau. Aber ihr Blick kreuzte sich stolz mit dem Bruder Etiennes.
»Ich habe einen Menschen getötet, Pater … und ich bereue es nicht!«
»Wer würde es bereuen?« seufzte der Mönch. »Ich werde meine nächste Messe für die Seele dieses Unglücklichen lesen, wenn eine Messe für einen so schwarzen Geist überhaupt etwas auszurichten vermag. Was Euch betrifft, so erteile ich Euch Absolution.«
Das Gefecht näherte sich seinem Ende. Die Wächter des Flusses lagen jetzt alle auf dem Schnee, verwundet oder tot, und MacLaren sammelte seine Leute. Gauthier sprang vom Pferd und näherte sich mit freudestrahlenden Augen Cathérine.
»Ihr habt nichts abbekommen, Dame Cathérine? Bei Odin, ich glaubte zu träumen, als ich einen kleinen Schotten diesem großen schwarzen Tier an die Kehle springen sah. Aber Ihr seid am Leben, voll und ganz am Leben!«
In seiner Freude hatte er sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie nun, ohne sich allzusehr um seine Körperkräfte zu kümmern, rang mit dem furchtbaren Verlangen, das ihn überkam, sie an sich zu drücken und zu küssen. Doch plötzlich wurde Cathérine unter seinen Händen schlaff. Ein brennendes Gefühl in der Schulter war das einzige, was sie noch von ihrem seltsam haltlos gewordenen Körper wahrnahm. Ihr Kopf drehte sich, während ein schwarzer Schleier den Tag verdunkelte. Die Ohren summten, und sie hörte nur noch eine Stimme, die schalt:
»Dummkopf! Sieh das Blut unter deiner linken Hand! Du siehst doch, daß sie verwundet ist!«
Cathérine spürte, daß man sie jäh losließ, dann fühlte sie gar nichts mehr. Im Eifer des vor kurzem beendeten Kampfes hatte sie nicht einmal bemerkt, daß ihr eine Klinge in die Schulter gedrungen war! Diese glückliche Ohnmacht ersparte ihr zusätzliche Angst. Während Gauthier sie auf die Arme nahm und vorsichtig über den Hals seines Pferdes legte, richtete sich MacLaren in seinen Steigbügeln auf.
»Es ist besser, keine Zeit mehr zu vergeuden«, sagte er. »Ich sehe einen größeren Trupp aus der Abtei herauskommen. In Kürze werden wir sämtliche Soldaten des Abtes auf dem Hals haben. Verschwinden wir!«
»Aber sie braucht Pflege!« rief Sara.
»Sie wird sie später bekommen. Zunächst müssen wir das Weite suchen. Steigt bei zweien meiner Männer hinten auf, Ihr, die Dienerin, und Ihr, der Mönch. Und nun vorwärts!«
Zwei kräftige Schotten beluden sich mit Sara und Bruder Etienne, dann entfernte sich Ian McLarens Trupp, Bogen und Armbrüste über den Rücken, von Aurillac, von den Verwünschungen der herausströmenden Bewaffneten verfolgt. Einige Pfeile und Bolzen umschwirrten sie, trafen aber niemand. Das Lachen des schottischen Leutnants schallte wie ein Donnerschlag.
»Mönchssoldaten, das taugt nicht mehr als Nonnen mit Helmen! Die können besser das Paternoster herunterleiern und die Mädchen aufs Kreuz legen als einen Bogen spannen!«
Cathérines Verwundung war nicht ernst. Eine dünne Klinge war ihr einen Zoll tief in die Schulter gedrungen. Sie hatte ziemlich kräftig geblutet, aber die Wunde schmerzte nicht sehr. Ihre Schulter und ihr Arm waren steif und schwer wie Blei, doch hatte sie im Wind des schnellen Rittes das Bewußtsein rasch wiedererlangt. Sobald MacLaren schätzte, daß sie weit genug entfernt waren, hatte er Halt befohlen. Während seine Leute einen Becher tranken und ein paar Bissen aßen, hatte Sara die junge Frau zur Seite genommen, um sich um ihre Verwundung zu kümmern. Ihre geschickten Hände hatten schnell einen Verband aus einem zerrissenen Hemd aus dem Kleiderballen und ein wenig Balsam aus Hammelfett und Wacholder gemacht, der einem der Schotten gehörte. Dann hatten sie, auch Cathérine, etwas Brot und Käse gegessen und ein paar Schluck Wein getrunken, bis MacLaren wieder das Signal zum Aufbruch gab. Cathérine fühlte sich matt. Die Anstrengungen des nächtlichen Marsches zwischen Vezac und Aurillac zusammen mit dem Schock des kürzlichen Kampfes hatten sie erschöpft. Eine unbändige Schläfrigkeit überfiel sie, und sie hatte unendliche Mühe, die Augen offenzuhalten.