Ein einziger Umstand quälte sie: den kleinen Michel verlassen zu müssen, für den sie ein Gefühl empfand, das sehr nahe an Anbetung grenzte. Aber Sara ließ nicht zu, daß Cathérine sich allein in ein Abenteuer stürzte. Der Hof war ein gefährlicher Ort, und die Zigeunerin nahm sich vor, sich persönlich um die junge Frau zu kümmern. Seelisch verwundet und dadurch anfällig geworden, hatte Cathérine es nötig, daß man ein wachsames Auge auf sie hielt. Michel, das wußte Sara wohl, würde vollkommen sicher sein, und es würde ihm bei seiner Großmutter an nichts fehlen, die ihn vergötterte und mit jedem Tag mehr den verlorenen Sohn in ihm wiederfand.
In einigen Wochen würde das Kind ein Jahr alt sein. Groß und kräftig für sein Alter, war es das prächtigste Baby, das Sara je gesehen hatte: Rund und rosig, hatte es hübsche, klare blaue Augen, und kräftige Locken, strahlend wie Goldspäne, bedeckten dicht seinen Kopf. Michel betrachtete alles mit ernster Miene; wenn er aber lachte, erstickte er fast. Er zeigte sich bereits sehr tapfer, und nur die Entzündung seiner Wangen kündigte das Zahnen an, denn das Baby weinte nicht. Wenn es zu sehr litt, liefen ihm große Tränen die Wangen hinunter, aber seinem kleinen, schmerzverzogenen Mund entrang sich kein Laut. Die Garnison wie die Bauern beteten es einhellig an, und Michel, sich seiner Macht schon bewußt, herrschte über seine Umwelt wie ein kleiner Tyrann, wobei seine bevorzugten Sklaven seine Mutter, seine Großmutter, Sara und die alte Donatienne, die als Kammerfrau bei Dame Isabelle dienende Bäuerin aus Montsalvy, waren. Gauthier gegenüber verhielt sich das Kerlchen abwartend. Der blonde Normanne beeindruckte es durch seine ungeheuren Kräfte, und das Kind behandelte ihn auf seine Weise. Anders ausgedrückt: Es ließ an ihm keine seiner Launen aus, die einzig und allein den vier Frauen vorbehalten waren. Bei Gauthier war man unter Männern, und Michel fand immer ein breites Lächeln für seinen riesenhaften Freund.
Ihren Sohn zu verlassen bedeutete für Cathérine ein schweres Opfer. Die ganze Liebe, die sie dem Vater nicht mehr geben konnte, hatte sie auf ihn übertragen und umgab ihn mit einer unruhigen, stets wachsamen Zärtlichkeit. Sie ging mit ihm um wie der Geizhals mit seinen Schätzen. Er war die einzigartige, wunderbare Erinnerung an den Abwesenden, das Kind, das nie Brüder oder Schwestern haben würde. Er war der Letzte der Montsalvy. Ganz gleich um welchen Preis, mußte man ihm eine Zukunft bauen, die seiner Vorfahren und besonders seines Vaters würdig war. Und aus diesem Grunde überwachte die junge Frau, tapfer ihre Tränen unterdrückend, die Vorbereitungen der Trennung von ihrem Sohn und seiner Großmutter. Aber wie schwer war es, nicht zu weinen, während man die kleinen Kleidungsstücke, die zum größten Teil das Werk ihrer sorgsamen Hände waren, behutsam in einem Lederkoffer verstaute!
»Mein Kummer ist selbstsüchtig, siehst du!« sagte sie zu Sara, die ihr mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen half und sich bemühte, Haltung zu bewahren, »ich weiß, daß Mutter ebenso gut auf ihn aufpassen wird, wie ich es könnte. Ich weiß, daß ihm in der Abtei nichts zustoßen kann, daß er vor allem Bösen, allem Schmerz behütet und daß unsere Abwesenheit, wie ich hoffe, kurz sein wird. Trotzdem mache ich mir große Sorgen!«
»Glaubst du, mir ist es nicht schmerzlich, ihn zu verlassen? Aber schließlich reisen wir für ihn da hinunter, und wenn es für sein Wohl ist, fällt mir nichts zu schwer!«
Und um die Zuverlässigkeit ihrer Überzeugung zu demonstrieren, machte sich Sara mit Eifer daran, die kleinen Hemden des Kindes im Koffer zu verstauen. Trotz allem mußte Cathérine leise lächeln. Ihre alte Sara würde sich nie ändern! Selbst wenn sie vor Kummer erstickte, ließ sie sich lieber in Stücke hauen, als es einzugestehen. Im allgemeinen verwandelte sich bei ihr der Kummer in Wut, die sie an unschuldigen Objekten ausließ. Seitdem Sara wußte, daß sie sich für einige Zeit von ihrem geliebten Säugling trennen mußte, hatte sie bereits zwei Näpfe, eine Schüssel, einen Wasserkrug, einen Schemel und eine Holzstatue des heiligen Géraud zerbrochen, worauf sie in die Kapelle gestürzt war, um den Himmel um Vergebung für ihre unfreiwillige Freveltat anzuflehen.
Während sie sich mit grimmiger Entschlossenheit weiter an die Füllung des Koffers machte, murmelte sie:
»Im Grunde ist es eine gute Sache, daß Fortunat sich weigert, uns zu folgen. In ihm wird Michel einen tüchtigen Verteidiger haben, und dann …«
Sie hielt unvermittelt inne, biß sich auf die Zunge, wie sie es immer tat, wenn sich ihre laut ausgesprochenen Gedanken Arnaud de Montsalvy zuwandten. Der kleine gaskognische Schildknappe zeigte in der Tat fast ebenso tiefen Schmerz wie Cathérine. Er hegte für seinen Herrn eine glühende und unbedingte Ehrerbietung, wie sie manche Männer bei ihren Gefolgsleuten zu wecken verstehen. Er bewunderte ihn ob seiner Tapferkeit und seines untrüglichen Ehrgefühls, ob seiner Befähigung als Kriegsmann und auch dessentwegen, was die Feldhauptleute Karls VII. ›den abscheulichen Montsalvy-Charakter‹ nannten: eine seltsame Mischung von Gewalttätigkeit, Humanität, von Schroffheit und unerschütterlicher Loyalität. Daß die furchtbare Lepra seinen Gott hatte befallen können, war zuerst ein Schock für Fortunat gewesen, dann hatte er sich zornig gegen das Schicksal aufgelehnt und war schließlich in Verzweiflung versunken, die abzuschütteln ihm noch nicht gelungen war. An dem Tag, an dem Arnaud die Seinen auf immer verlassen mußte, hatte Fortunat sich tief in einen Turm verkrochen und sich geweigert, dem entsetzlichen Abschied beizuwohnen. Hugh Kennedy hatte ihn auf dem nackten Boden liegend angetroffen, wie ein Kind schluchzend und beide Fäuste an die Ohren pressend, um das Läuten der Totenglocke nicht hören zu müssen. Seit diesem Tag schleppte sich Fortunat durch die Festung wie eine im Fegefeuer schmachtende Seele, fand keinen Geschmack am Leben mehr, außer einmal in der Woche, am Freitag, wenn er zum Spital von Calves ging und einen Korb mit Lebensmitteln am Turm des Gotteshauses abstellte. Bei diesen wöchentlichen Besuchen einer verschlossenen Pforte lehnte Fortunat jede Begleitung ab. Er wollte allein sein. Selbst Gauthier, der ihm inzwischen ans Herz gewachsen war, hatte nie die Erlaubnis erhalten, ihn zu begleiten. Und nie hatte der kleine Gaskogner sich ein Pferd für den Weg nach Calves geben lassen. Zu Fuß, wie auf einer Pilgerfahrt, legte er die anderthalb Wegstunden von Carlat zur Leprastation zurück, unter das schwere Gewicht des Korbes und auf dem Rückweg unter das seines tiefen Kummers gebeugt. Von Mitleid gerührt, hatte Cathérine ihn nötigen wollen, sich ein Reitpferd zu nehmen, doch Fortunat hatte sich geweigert.
»Nein, Dame Cathérine, nicht einmal einen Esel! ›Er‹ hat nicht mehr das Recht, die Pferde zu besteigen, die er so sehr liebt; da werde ich, sein Knappe, auch nicht zu Pferde zu meinem geschlagenen Herrn gehen!«
Der Adel und die Liebe, die aus diesen Worten sprachen, hatten Cathérine erschüttert. Sie hatte also nicht mehr darauf bestanden, sondern hatte den kleinen Mann mit feuchten Augen an den Schultern ergriffen und ihn schwesterlich auf beide Wangen geküßt.