»Du bist tapferer als ich«, hatte sie zu ihm gesagt, »die ich nicht den Mut habe, dorthin zu gehen. Ich glaube, ich würde vor dieser Pforte, die sich niemals öffnet, sterben. Ich begnüge mich damit, von weitem den Rauch des Schornsteins zu betrachten … Ich bin nur eine Frau«, hatte sie demütig hinzugefügt.
Doch an diesem Abend, an dem sie Fortunat hatte rufen lassen, um ihm die letzten Anweisungen vor dem Aufbruch nach Montsalvy zu geben, hatte sie sich nicht enthalten können, zu ihm zu sagen:
»Von Montsalvy nach Calves sind es mehr als fünf Meilen, Fortunat! Du solltest dich endlich entschließen, ein Pferd oder zumindest ein Maultier zu nehmen. Du brauchst dein Reittier nur in einiger Entfernung von …«
Das peinliche, den verworfenen Ort näher bezeichnende Wort kam nie über ihre Lippen. Doch Fortunat schüttelte den Kopf.
»Ich werde zwei Tage hin und zurück brauchen, Dame Cathérine, das ist alles!«
Auch diesmal erwiderte Cathérine nichts. Sie verstand im Grunde das Bedürfnis des kleinen Gaskogners, auf seine Weise zu leiden, wenn er zu dem ging, der nur noch Leid zu erdulden hatte. Aber zwischen den Zähnen, nur für sich, murmelte die junge Frau, die Hände aneinanderpressend:
»Eines Tages … werde auch ich hinübergehen! Und werde nie zurückkehren …«
Am Morgen beobachtete Cathérine, aufrecht auf dem Wall stehend, hinter ihr Sara und Gauthier, wie ihr Sohn und ihre Schwiegermutter Carlat verließen. Durch ihren schwarzen Schleier geschützt, sah sie die uralte Sänfte, ein schwerfälliges Möbel mit dicken Ledervorhängen, das man für diese Gelegenheit aus einem Winkel des Marstalls ausgegraben hatte, sich durch die Pforte der Umwallung bewegen. Ein eisiger Wind fegte durch das schneebedeckte Tal, doch in der Sänfte, in der man mit rotglühenden Kohlen gefüllte Behälter aufgestellt und Decken aufgehäuft hatte, würde Michel zwischen seiner Großmutter und Donatienne nicht frieren. Inmitten seiner bis an die Zähne bewaffneten Eskorte ging der kleine Knabe der Ruhe und Sicherheit entgegen, aber seine Mutter konnte die Tränen nicht zurückhalten. Da niemand hinter das zarte Bollwerk des Musselins blicken konnte, vergab sie sich nichts damit. Auf den Lippen spürte sie noch die frischen, samtenen Wangen des Kindes. Sie hatte es in einem plötzlichen Ausbruch von Leidenschaft geküßt, innerlich von der erzwungenen Trennung gepeinigt, bevor sie es seiner Großmutter wieder in die Arme gab. Dann hatten die beiden Frauen sich wortlos umarmt, doch als Isabelle de Montsalvy in die Sänfte stieg, hatte sie mit dem Daumen vor der Stirn der jungen Frau das Zeichen des Kreuzes gemacht. Dann hatte sie Michel fester in die Arme geschlossen, und die Ledervorhänge waren hinter ihnen zugefallen.
Jetzt wand sich der Zug den steilen Abhang hinunter und erreichte die ersten Häuser des Dorfs. Von ihrem Beobachtungsposten aus konnte Cathérine die roten oder blauen Mützen einiger an der Kirche versammelter Bauern sehen. Frauen traten aus ihren Häusern, einige hatten Spinnrocken in der Hand und das Wollgarn in einem Weidenkorb dabei. Als die Sänfte vorbeizog, wurden die Kappen abgenommen. Absolute Stille breitete sich über das wie in ein Leichentuch gehüllte weiße Land. Der Rauch der Kamine zeichnete da und dort dünne graue Spiralen in die Luft, über den Bergen, wo die Kastanien, ihres sommerlichen Laubs beraubt, ihre schwarzen Gerippe zum Himmel reckten, drang eine mühselige Sonne durch die Wolken, beschien die rußfarbenen Lanzenspitzen der Soldaten der Eskorte, ließ sie düster glänzen und färbte die Reiherfedern der Helme gelb. Ian MacLaren, Hugh Kennedys Leutnant, befehligte das Detachement von Schotten, das beauftragt war, den kleinen Seigneur und seine Großmutter nach Montsalvy zu geleiten. Die Abteilung sollte tags darauf zurück sein. Die Abreise nach Norden würde am Mittwoch stattfinden.
Als ein sich bis ins Tal hinunterziehendes Gehölz den kleinen Trupp verschluckt hatte und nur noch eine tiefe Doppelspur im Schnee zurückblieb, drehte Cathérine sich um. Sara, die Hände auf der Brust verschlungen, die Augen voller Tränen, blickte starr auf die Stelle, wo der Trupp verschwunden war. Cathérine sah, daß ihre Lippen zitterten. Dann suchte sie den Blick Gauthiers, aber er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Nach Westen gewandt, schien er etwas zu hören. Der Ausdruck seines derben Gesichts war so gespannt, daß Cathérine, die sein Jagdhundgespür kannte, sofort unruhig wurde.
»Was ist los? Hörst du etwas?«
Ohne zu antworten, machte er ein bejahendes Zeichen und lief zur Treppe. Cathérine folgte ihm, blieb aber schnell hinter den weitausgreifenden Schritten des Normannen zurück. Sie sah ihn eiligst den Hof überqueren, unter dem Schutzdach verschwinden, wo der Hufschmied arbeitete, und gleich darauf mit Kennedy wieder zum Vorschein kommen. Gleichzeitig gellte der Ruf eines Wächters von der Turmspitze: »Bewaffneter Trupp in Sicht!«
Das Kleid raffend, stieg sie die wenigen Stufen wieder empor, die sie heruntergekommen war, und lief, von Sara gefolgt, den langen Wehrgang entlang zum Schwarzen Turm. Die Ankündigung dieses Trupps verstärkte ihre Angst um ihren Sohn, obgleich er sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nähern schien, als die Eskorte eingeschlagen hatte. Sie erreichte die vorspringende Turmwehr just in dem Augenblick, in dem Gauthier und der Gouverneur, rot und außer Atem vom schnellen Treppensteigen, oben erschienen. Sofort stürzten sie zu den Schießscharten. Tatsächlich war auf der Straße von Aurillac ein starker Trupp aufgetaucht. Er zeichnete sich auf dem Schnee als lange graue Spur ab, wie ein stumpf schimmernder Schlammstrom, der näher kam, näher kam, näher … Wenige Banner, deren Farben auf diese Entfernung übrigens nicht zu unterscheiden waren, aber an der Spitze flatterte etwas Langes, Rotes im Wind. Cathérine versuchte, mit zusammengekniffenen Augen das eingestickte Wappen zu erkennen, und gab es dann auf. Aber Gauthiers scharfe Augen hatten es schon entziffert.
»Viergeteiltes Wappen!« sagte er kurz. »Halbmonde und Querstreifen, das habe ich doch schon irgendwo gesehen …!«
Cathérine gestattete sich ein dünnes Lächeln.
»Du wirst noch ein Gelehrter werden«, sagte sie. »Nächstens tust du es den königlichen Heraldikern gleich!«
Aber Kennedy lächelte nicht. Sein ziegelsteinrotes Gesicht mit dem vorwurfsvollen Zug um die schmollenden Lippen sah unheilverkündend aus. Er wandte sich ab, brüllte etwas in seinem groben Dialekt und fügte hinzu:
»Das Fallgatter herunter! Zugbrücke hoch! Die Bogenschützen auf die Mauern!«
Sofort war die Festung von Betriebsamkeit erfüllt. Mit Bogen und Hellebarden bewaffnet, stiegen die Männer auf die Mauern, während andere die Zugbrücke und das Fallgatter bedienten. Gutturale Schreie, Rufe, Waffenklirren, emsiges Hin- und Herlaufen in jeder Richtung. Das noch vor einem Augenblick unter dem Schnee schlummernde Schloß war jäh erwacht. Schon stapelte man in den Wehrgängen Holzscheite auf und schleppte die großen Töpfe für das kochende Öl heran. Cathérine trat zu Kennedy.
»Ihr setzt das Schloß in Verteidigungszustand? Warum?« fragte sie. »Wer nähert sich uns?«
»Villa-Andrado, der Hund von Kastilien!« gab er kurz zurück. Und um zu zeigen, welche Achtung er für den Ankömmling empfand, spuckte der Schotte in großem Bogen aus und fügte hinzu: »Gestern nacht haben die Wachen einen Feuerschein von Aurillac her beobachtet. Ich hatte der Sache keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich muß zugeben, daß ich unrecht hatte. Das war er!«
Cathérine wandte sich ab und lehnte sich an einen der riesigen Pfeiler. Sie zupfte ihren Schleier zurecht, den der Wind aufflattern ließ, um die plötzliche Röte, die ihr in die Wangen gestiegen war, besser zu verbergen, dann schob sie die erstarrten Hände in ihre weiten Ärmel. Der Name des Spaniers rief so viele Erinnerungen wach!
In der Tat hatten Gauthier und sie selbst das rotgoldene Banner schon gesehen: vor etwa einem Jahr auf den Wällen von Ventadour, aus dem Villa-Andrado die Vicomtes verjagt hatte. Und Arnaud hatte sich damals mit den Leuten des Kastiliers herumgeschlagen. Schnell schloß die junge Frau die Augen, versuchte vergebens, eine heiße Träne zurückzuhalten. Sie sah die Höhle wieder, auf der Sohle des schmalen, tief eingeschnittenen Tals, das Ventadour wie ein Burggraben umschloß, jene unsichere Zuflucht der Schäfer, in der sie während des Kampfes ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Sie sah das rötliche Flackern des Feuers und die hohe schwarze Silhouette Arnauds, die sich gleich einem Wall zwischen ihr und der Blutgier der Söldner erhob. Aber sie sah auch das kantige Gesicht des vor ihr knienden Villa-Andrado vor sich, die begehrlich-lüsterne Flamme im Hintergrund seiner Augen. Er hatte ihr ein Gedicht rezitiert, aber sie hatte die Worte vergessen, und außerdem hatte er als ritterlicher Feind Lebensmittel geschickt, damit Mutter und Kind wieder zu Kräften kämen. Sie hätte ihn in dankbarer Erinnerung bewahrt, wäre nicht die furchtbare Überraschung gewesen, die am Ziel ihrer Reise auf sie wartete: Montsalvy dem Erdboden gleichgemacht, niedergebrannt bis auf die Grundfesten von jenem Valette, dem Leutnant Villa-Andrados, der nach seinen Befehlen handelte. Bernard d'Armagnac hatte Valette aufhängen lassen; aber hatte sich dadurch das Verbrechen seines Herrn vermindert? Und jetzt ritt er auf Carlat zu, lebendes Symbol des Fluches, der auf den Montsalvys lag.