Je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, desto mehr schien Cathérines Ungeduld zu wachsen, und gleichzeitig verdüsterte sich ihre Stimmung. Sie wurde immer einsilbiger und ritt ganze Stunden lang, ohne ein Wort zu sprechen, die Augen auf den Weg vor ihr gerichtet, von fiebriger Eile besessen. Tristan beobachtete sie insgeheim, ohne freilich zu wagen, ihr Fragen zu stellen. Sie forcierte das Tempo soweit wie möglich und zeigte sich ärgerlich, wenn eine Rast eingelegt werden mußte. Aber die Pferde brauchten nun einmal Atempausen.
Indes, als man Aurillac passiert hatte, ließ die große Hast unversehens nach. Cathérine ließ das Tempo mehr und mehr verlangsamen, als fürchtete sie, sich den Bergen zu nähern, in denen Arnaud immer noch lebte. Und als die Wälle und Türme von Montsalvy auf der Hochebene auftauchten wie eine dunkle, der Nacht aufgesetzte Krone, zügelte die junge Frau ihr Pferd und hielt einen Augenblick an, mit schwerem Herzen diese Landschaft betrachtend, die kennenzulernen sie allzuwenig Zeit gehabt hatte. Tristan lenkte beunruhigt sein Pferd neben sie.
»Dame Cathérine, was habt Ihr?«
»Ich weiß nicht … Freund Tristan, mir scheint, ich habe plötzlich Angst.«
»Wovor?«
»Ich weiß nicht!« wiederholte sie mit müder Stimme. »Es ist wie … eine Vorahnung.«
Niemals hatte sie etwas Ähnliches wie diese erstickende Furcht vor dem empfunden, was sie hinter diesen stummen Mauern erwartete. Sie versuchte, vernünftig zu sein. Da drüben waren Michel, Sara, ohne Zweifel auch Gauthier. Aber selbst das Bild ihres kleinen Sohns vermochte das bedrückende Gefühl in ihrer Brust nicht zu lösen. Sie warf Tristan einen tränenfeuchten Blick zu.
»Reiten wir weiter«, sagte sie schließlich. »Die Männer sind müde!«
»Und Ihr auch!« brummte der Flame. »Vorwärts, Leute!«
Die Stadttore waren zu dieser späten Stunde geschlossen, aber Tristan setzte das Horn, das an seinem Gürtel hing, an den Mund und stieß dreimal hinein. Nach einem Weilchen beugte sich ein Mann mit einer Laterne über die Zinne.
»Wer ist da?«
»Öffnet!« rief Tristan. »Es ist die edle Dame Cathérine de Montsalvy, die vom Hofe zurückkehrt, öffnet! Im Namen des Königs!«
Der Wächter stieß einen unartikulierten Schrei aus. Das Licht verschwand, aber einige Augenblicke später öffnete sich knarrend das Tor der kleinen befestigten Stadt. Der Mann mit der Laterne erschien wieder, die Kappe in der Hand, und trat bis unter die Köpfe der Pferde heran, seine Laterne hebend.
»Wahrhaftig, es ist unsere Dame!« rief er freudig. »Gott segne sie, daß sie zu so gelegener Zeit ankommt. Man hat nach dem Amtmann geschickt, um sie würdig zu empfangen.«
In der Tat kam auf der einzigen schmalen Gasse eine schwankende Gestalt eilends angelaufen. Cathérine, plötzlich erleichtert, erkannte den alten Saturnin. Er kam mit der ganzen Schnelligkeit, die seine alten Beine ihm erlaubten, und rief:
»Dame Cathérine! Dame Cathérine kehrt zu uns zurück! Gott sei gelobt! Willkommen unserer Herrin!«
Er war ganz außer Atem. Bewegt und ein wenig belustigt, wollte Cathérine absteigen, um ihn zu begrüßen, aber er warf sich buchstäblich gegen das Pferd.
»Bleibt im Sattel, Herrin! Der alte Saturnin will Euch zur Abtei führen, wie er Euch damals zu seiner Meierei geführt hat.«
»Ich bin so glücklich, Euch wiederzusehen, Saturnin … und Montsalvy wiederzusehen!«
»Nicht so glücklich wie Montsalvy, Euch wiederzusehen, gnädige Dame. Seht!«
Wirklich öffneten sich wie durch ein Wunder sämtliche Fenster und Türen, Köpfe lugten heraus, Männer und Frauen traten über die Schwellen, Fackeln wurden geschwenkt. Im Augenblick war das Gäßchen festlich erleuchtet, während von überallher freudige Stimmen riefen:
»Heil! Heil unserer Dame, die zu uns zurückkehrt!«
»Ich beneide Euch«, murmelte Tristan. »Ein solcher Empfang muß ungeheuer labend sein.«
»Das ist wahr! So habe ich ihn nicht erwartet, und ich bin sehr glücklich darüber … sehr glücklich!«
Sie hatte Tränen in den Augen. Saturnin, hochaufgerichtet vor Stolz, hatte die Zügel ihres Pferdes ergriffen und führte sie langsam die Straßen entlang, zwischen zwei Reihen strahlender, von Freude und Fackelschein geröteter Gesichter hindurch, überall sah man nur leuchtende Augen, offene Münder, die Freudenrufe ausstießen.
»Was fürchtet Ihr noch?« flüsterte Tristan. »Die ganze Welt betet Euch hier an!«
»Vielleicht. Und ich weiß noch immer nicht, was ich fürchtete. Es ist wunderbar! Es ist …«
Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie war vor dem Portal der Abtei angelangt, das ebenfalls weit geöffnet war. Auf der Schwelle erhob sich die riesige Gestalt Gauthiers. Cathérine erwartete, daß er bei ihrem Anblick auf sie zueilen würde, wie Saturnin es getan hatte, aber er rührte sich nicht. Statt dessen verschränkte er die Arme, als wollte er ihr den Eintritt verwehren. Sein Gesicht hatte die Unbeweglichkeit von Granit. Kein Lächeln erhellte es. Und als Cathérine dem eisigen Blick seiner grauen Augen begegnete, konnte sie sich eines Fröstelns nicht erwehren.
Von Saturnin gestützt, stieg sie vom Pferd und ging auf den Normannen zu. Er verharrte bewegungslos, ohne ihr auch nur einen Schritt entgegenzugehen. Sie versuchte zu lächeln.
»Gauthier!« rief sie. »Welche Freude, dich wiederzusehen!«
Doch aus dem verkniffenen Mund kam kein Wort des Willkommens. Nichts als ein trockenes:
»Seid Ihr allein?«
»Wie?« fragte sie verdutzt.
»Ich habe gefragt, ob Ihr allein seid«, wiederholte der Normanne ungerührt. »Ist er nicht bei Euch, dieser schöne blonde Galan, den Ihr heiraten wollt? Zweifellos ist er ein wenig zurückgeblieben, um Euch allein Einzug halten zu lassen!«
Cathérine errötete jählings, mehr aus tiefer Kränkung als aus Zorn. Die Unverschämtheit Gauthiers verwirrte sie. Er wagte es, sie brutal vor allen Leuten anzugreifen und Rechenschaft von ihr zu fordern! Wenn sie in den Augen ihrer Bauern nicht das Gesicht verlieren wollte, mußte sie zurückschlagen. Ihr kleines Kinn vorschiebend, schritt sie entschlossen dem Portal zu.
»Platz!« sagte sie trocken. »Wer hat dir erlaubt, mir Fragen zu stellen?«
Gauthier rührte sich nicht von der Stelle. Er versperrte weiter den Eingang mit seiner riesigen Gestalt. Tristan runzelte die Stirn, legte die Hand auf den Degen. Aber Cathérine hielt ihn zurück.
»Laßt, Freund Tristan. Das ist meine Sache! Also«, befahl sie scharf, »laß mich durch. Empfängt man so eine Lehnsherrin, die in ihr Haus zurückkehrt?«
»Das ist nicht Euer Haus, sondern das des Abtes! Und was die Herrin betrifft, Dame Cathérine, seid Ihr dieses Titels noch würdig?«
»Welche Anmaßung!« rief Cathérine außer sich. »Bin ich dir Rechenschaft schuldig! Ich will meine Schwiegermutter sehen!«
Wie mit Bedauern trat Gauthier zur Seite. Cathérine schritt hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei und betrat den Hof der Abtei. Kalt rief er ihr nach:
»Beeilt Euch! Denn sie wird nicht mehr lange leben!«
Wie von einem Peitschenhieb getroffen, blieb Cathérine stehen. Einen Moment schien sie wie erstarrt, dann wandte sie sich langsam um und warf dem Normannen einen entsetzten Blick zu.
»Wie?« stammelte sie. »Was hast du gesagt?«
»Daß sie im Sterben liegt! Aber das wird Euch ja nicht sehr berühren! Ein weiteres hinderliches Band, das nun wegfallen wird!«
»Ich weiß nicht, wer du bist, Freund«, warf Tristan wütend ein, »aber du hast ein sonderbares Benehmen! Wieso diese Grobheit deiner Herrin gegenüber?«