PERSONENREGISTER
Lucius Justinius Marcellus, geboren in Arausio
Die Familie
In Arausio
In der XIX Augusta
2. Hastatencenturie der 8. Kohorte
Die Kelten
Die Feldherren
REGISTER • RÖMISCHER • STÄDTE- UND • FLUSSNAMEN
NEUE • WEGE
ARAUSIO
Lucius brannte die Sonne heiß ins Gesicht. Sein Mund war voller Dreck und Staub. Wohin er auch sah, überall erstreckte sich Wüste. Kein Baum, kein Strauch und kein Wasserloch war zu sehen, nur Sand und Felsen. Dort, Richtung Osten, lagen mehrere Wasserstellen, doch dieser Weg war vom parthischen Heer versperrt. Lucius hätte eine Million Sesterzen für einen Schluck Wasser gegeben. Es blieb aber keine Zeit, nach der ohnehin fast leeren Feldflasche zu greifen, da die berittenen Bogenschützen wieder näher rückten. Sie beschossen die Römer ohne Pause, während sie die Reihen entlangtrabten. Am Ende der Schlachtreihe angekommen, wendeten sie ihre Pferde und ritten zurück. Wieder ging ein Pfeilhagel auf die Legionäre nieder. Jeden Schmerzensschrei beantworteten die Parther mit gellendem Hohngelächter. Lucius hielt krampfhaft seinen Schild hoch und betete zu Mars, dass er den Beschuss stoppen möge. Da rissen die parthischen Bogenschützen plötzlich ihre Pferde herum und galoppierten davon. Vergeblich versuchten die römischen Reiter, ihre Gegner einzuholen.
Durch die Legion ging ein Aufatmen, das aber nur von kurzer Dauer war. Die parthischen Kataphrakten machten sich bereit. Die Rüstungen ihrer Pferde funkelten wie ein Teich an einem friedlichen Sommertag. Ihre Lanzenspitzen blinkten in der Sonne, alles andere als friedlich.
Die Drachenstandarte, die über ihnen aufragte, wirkte bedrohlich. Lucius’ Auge wanderte zum römischen Legionsadler, der stolz über der Legion thronte, wachsam und kampfbereit.
Die Kataphrakten setzten sich in Bewegung, die Reiter durch den Schild gedeckt und die Lanze im Anschlag.
Lucius zwang sich, durchzuatmen, und rief seine Befehle. Die Legionäre nahmen Aufstellung. Den Schild auf den Boden gestellt, die schweren Wurfspeere nach vorn gestreckt, erwarteten sie den Ansturm. Der Aufprall raubte Lucius den Atem und es war, als ob die Welt untergehen würde. Ein Inferno tobte um ihn herum. Gebrüll, Schmerzens- und Todesschreie, Holz splitterte und Metall dröhnte. Wie eine vernichtende Welle brach der Angriff über die Legion herein. Dann folgte plötzlich unheimliche Stille. Überall um Lucius herum lagen Tote und Verletzte, aber die Attacke war abgewehrt. Doch nun kehrten die Bogenschützen zurück und wieder ging ein Pfeilhagel unbarmherzig auf die Legionäre nieder. Der Mann vor Lucius seufzte kurz auf und fiel dann vornüber aufs Gesicht. Lucius sah entsetzt auf den Pfeil, der im Hals des Toten steckte. Sein Blick flackerte, so dass er blinzeln musste. Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Die Pfeile prasselten jetzt unaufhörlich auf sie nieder. Lucius konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Wo waren nur die eigenen Reiter geblieben? Er konnte sie nirgends entdecken. Überall gaben die Legionäre ängstlich ihre Stellungen auf. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Legion und dann das ganze römische Heer zur Flucht wandten.
Lucius wusste, er musste etwas unternehmen. Jetzt kam es auf ihn an. Er drehte sich zum Aquilifer um und entriss ihm den Adler. „Folgt mir, Kameraden!“, schrie er. „Gebt euren Adler nicht der Schande preis!“ Und er stürmte dem Feind entgegen. Er schien den Wüstenboden gar nicht zu berühren, Pfeile sausten an ihm vorbei und trafen ihn nicht. Ein parthischer Bogenschütze legte auf ihn an und sank im selben Moment von Lucius’ Speer getroffen vom Pferd. Eine Lanze kam geflogen und wurde von seinem Schild abgefangen. Der parthische Anführer fiel, niedergestreckt von seinem Schwert. Wie er das schaffte, Schwert, Speer, Schild und Adler zu halten, das wusste Lucius selbst nicht. Es war, als ob er plötzlich tausend Hände hätte. Hinter ihm setzte sich die Legion in Bewegung, ermutigt durch Lucius’ tapferes Vorbild, und unter ihrem Ansturm wurde das parthische Heer hinweggefegt und ergriff die Flucht.
Die Legionäre erreichten die Wasserstelle. Wie herrlich das Wasser schmeckte, besser als jeder Wein! Der Feldherr Marcus Vipsanius Agrippa kam auf sie zugeritten und hielt neben Lucius an. „Tribun Marcellus!“, rief er mit seiner weit tragenden Stimme. „Du hast die Legion gerettet, und deshalb verleihe ich dir die Graskrone!“ Ein Legat reichte Agrippa die Krone und der Feldherr setzte sie Lucius aufs Haupt. Die Legionäre brachen in Jubelrufe aus und riefen seinen Namen: „Lucius, Lucius!“ Sie ergriffen seinen Arm und schüttelten ihn.
„Lucius!“, rief Stephanos und rüttelte ihn wach. Lucius fuhr von der Bank hoch. Die Schriftrolle, die auf seinen Beinen gelegen hatte, fiel polternd zu Boden. Er befand sich nicht in Parthien, sondern in Arausio und war im Garten eingeschlafen. Es schien ihm auch nicht die Wüstensonne ins Gesicht, sondern die Frühlingssonne Südgalliens.
„Lucius“, wiederholte Stephanos, der Hausverwalter, „du musst gleich zum Unterricht!“
Lucius reckte sich und knurrte ungehalten. Rhetorikunterricht! Am liebsten hätte er dem alten Mann gesagt, was er mit dem Unterricht machen könnte, aber der konnte ja auch nichts dafür. Lucius sah ihm nach, wie er ins Haus zurückschlurfte. Dann hob er die Schriftrolle auf und warf wehmütig einen Blick in die Passage, die er zuletzt gelesen hatte:
„Als unsere Soldaten vor allem wegen der Tiefe des Wasser zögerten, beschwor der Adlerträger der 10. Legion die Götter, der Legion einen glücklichen Ausgang dieses Unternehmens zu gewähren, und rief: Springt, Kameraden, wenn ihr den Adler nicht dem Feinde ausliefern wollt! Ich jedenfalls werde meine Pflicht gegenüber Staat und Feldherrn erfüllen.“
Er rollte das Volumen zusammen und stand seufzend auf. „Ich jedenfalls werde meine Pflicht gegenüber der Familie erfüllen.“ Aber eines Tages, so schwor er sich, werde ich ein Tribun, Legat oder Feldherr sein. Ich werde die Feinde des Imperiums zerschmettern und mir einen Beinamen erwerben. Germanicus klingt nicht schlecht, oder vielleicht Armenius. Lucius Justinius Marcellus Britannicus wäre auch sehr klangvoll. Dann werde ich unter dem Jubel der Römer die Via Sacra entlangziehen, meine Soldaten werden ihre Spottlieder singen und abends werde ich im Tempel des Jupiter Optimus speisen.
„Hallo, Lucius!“, rief ihn in diesem Moment eine Stimme von oben. Das war nicht Jupiter Optimus. Ein kleiner Junge lehnte sich über die Mauer und sah zu ihm herunter. „Kommst du rüber, Lucius? Meine Eltern sind weg und nur meine Schwester ist da. Du wolltest mir doch noch den Trick beim Orcaspielen verraten!“
„Jetzt leider nicht, Sextus!“, entgegnete Lucius mit echtem Bedauern. „Ich habe Rhetorikunterricht!“