„Das sieht aber nicht sehr italisch oder römisch aus“, bemerkte Syros. „Die Höfe, die ich aus Italien oder Syrien kenne, sind ganz anders gebaut. Dort sind alle wichtigen Bereiche in einem Gebäude zusammengefasst.“
„Das stimmt. Unser Hof entspricht mehr einer keltischen Farm aus West- und Nordgallien. Perystil und Atrium wirst du auch nicht in der dir bekannten Form finden. Es kann hier im Winter ziemlich kalt werden“, entgegnete Lucius und genoss es ein wenig, Syros auch einmal etwas Neues zeigen und erklären zu können.
Sie durchquerten das Tor und standen vor einer Marmorsäule, auf der eine flammend rote Schrift verkündete, dass dieser Hof Eigentum des Gnaeus Justinius Marcellus war. Sie stiegen ab und führten die Pferde am Zügel über den Hof. „Hier sind Wagen und Maschinen untergebracht“, erklärte Lucius und wies auf eine langgestreckte Baracke, an die sich die Werkstatt anschloss. Einige Männer arbeiteten an einer Maschine, neben ihnen ein kräftiger, stämmiger Mann, der zusah und Anweisungen gab. Als er den Hufschlag hörte, drehte er sich zu ihnen um und ging ihnen entgegen. Seine Tunica war schlicht, aber sauber.
„Der macht sich die Hände nicht mit Arbeit schmutzig“, flüsterte Syros spöttisch.
„Das ist Sergius, der Verwalter“, erwiderte Lucius ein wenig ungehalten, denn Syros hatte selbst vermutlich noch nie ernsthafte körperliche Arbeit verrichtet.
Sergius ging ihnen entgegen und reckte den Arm zum Gruß. „Lucius, Herr, es ist eine Freude, dich zu sehen! Du und dein Freund, ihr seid aufs Herzlichste willkommen!“
„Das ist mein Vetter Gaius aus Syrien. Er brachte die Nachricht, dass mein Vater auf dem Heimweg ist.“
„Dann ist er uns doppelt willkommen! Steigt ab und gebt uns eure Pferde!“
Sie stiegen ab. Auf Sergius’ Wink kam ein Knecht und führte die Pferde fort. Lucius ließ seinen Blick über die Gebäude schweifen. „Es ist schön, wieder hier zu sein. Zwei Jahre sind eine so lange Zeit! An was arbeitet ihr da?“
Sergius deutete auf die Maschine. „Die neue Erntemaschine hat noch ein paar Macken und wir versuchen, sie ihr auszutreiben. Aber geht doch schon einmal vor zum Haus, ihr werdet vor dem Essen noch baden wollen! Meine Frau wird sich freuen, dich wiederzusehen.“
Sie gingen an dem Wagenschuppen vorbei. Vor ihnen öffnete sich ein weiter Platz, der auf der einen Seite von kleinen Wohnhäusern und auf der anderen Seite von einem Gänsestall flankiert wurde. Direkt vor ihnen lag, umgeben von einem Park, das Haupthaus. Es erstreckte sich fast über die gesamte Breite des Gutes. Eine vorgelagerte Säulenhalle und zwei Ecktürme gaben dem Bau einen italischen Charakter.
Syros zeigte auf die Wohnhäuser. „Das sind aber komfortable Sklavenunterkünfte!“
„Dort wohnen keine Sklaven, sondern Freigelassene. Wir haben fast keine Sklaven mehr auf dem Hof. Als es vor zehn Jahren zum letzten Mal zu einem Aufstand der Häduer kam, flohen die Römer zur Sicherheit nach Arausio. Sergius und die anderen Sklaven blieben hier, um das Anwesen gegen Diebe und Plünderer zu verteidigen. Deshalb lässt mein Vater sie frei, sobald sie das vorgeschriebene Alter erreicht haben.“ Lucius machte eine Pause. „Die meiste Arbeit machen sowieso die Tagelöhner. Der Weinanbau ist eine schwierige Angelegenheit, aber über das Jahr braucht man nur wenige Arbeiter. Erst während der Weinlese sind viele Helfer nötig, und da lohnt es sich, Tagelöhner einzustellen. Für das Getreidefeld haben wir die Maschine!“
„Euer Verwalter sieht nicht aus wie ein Gallier“, bemerkte Syros. „Er sieht aus wie ein echter Römer oder Italiker!“
„Sergius stammt aus Kampanien“, erklärte Lucius. „Vater hatte einen Weinexperten aus Italien kommen lassen und der brachte seine Gehilfen mit. Sergius war einer von ihnen. Gemeinsam haben sie das Weingut aufgebaut. Nachdem der Experte gestorben war, wurde Sergius Verwalter.“
Im Haupthaus fanden sie Sergius’ Frau, die sie herzlich begrüßte. Dann gingen sie zum Badehaus, um sich den Reisestaub abzuwaschen.
„Wir wollen, dass der Wein dieses Jahr so viel Sonne wie möglich abbekommt, und werden ihn daher nicht im September ernten. Dieses Jahr lassen wir ihn bis Ende Oktober stehen“, erklärte Sergius beim Abendessen. „Viel Sonne macht den Wein besser!“
Lucius und Syros nickten höflich. Wenn Sergius das sagt, wird es wohl stimmen, dachte Lucius. „Aber wir müssen Wachen aufstellen, sonst klaut man uns die Trauben weg, ehe der Monat überhaupt angefangen hat. Daher brauche ich mehr Geld! Wir werden die Erntehelfer früher einstellen, dazu ein paar Veteranen und ihre Söhne aus der Nachbarschaft!“
„Wer würde denn die Trauben stehlen?“, fragte Syros.
„Abgesehen von den Vögeln? Die Veteranen und ihre Söhne aus der Nachbarschaft!“, konterte Sergius trocken. Syros begann zu lachen.
Lucius konnte nicht glauben, was er da hörte. „Das heißt, wir bezahlen die Diebe, damit sie andere Diebe fernhalten?“, fragte er entgeistert.
„Natürlich!“, erklärte Sergius vergnügt. „Wer kennt die Schliche der Diebe denn besser als ein Dieb?“
„Aber du brauchst doch so viele Männer nicht als Wachen?“, warf Syros ein.
„Das nicht, aber wenn ich die Tagelöhner erst im Oktober einstelle, bekomme ich nur die, die kein anderer mehr will, die schlechtesten und faulsten von ihnen! Oder Arbeiter, die sich nicht auf die Weinernte verstehen. Nein, das wäre am falschen Ende gespart. Wir stellen sie wie immer zu den Iden des September ein. Ich werde schon Arbeit für sie finden. Sie können die Wannen und Gefäße für die Ernte reinigen und die eine oder andere Ausbesserungsarbeit verrichten. Es gibt immer genug zu tun.“
„Nun, das klingt doch alles ganz vernünftig.“ Lucius sah Syros unsicher an. Irgendetwas musste er schließlich sagen. „Ich werde Gaius empfehlen, deinem Vorschlag zu folgen!“
Dass Arausio eine Stadt im Aufbau war, konnte man am Gebäude der Therme sehen: Statt hoher, luftiger Baderäume wie in Massilia gab es nur flache Bauten. Einzig der Bereich des Warmwasserbeckens war ein wenig großzügiger gestaltet. Es würde noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern, bis Arausio eine richtige Therme bekam. Lucius ging zur Palaestra hinüber. Nach seiner Rückkehr vom Hof hatte er den Tag kaum abwarten können, an dem sein Training mit Pertinax beginnen sollte. Heute war es endlich so weit!
In der Palaestra herrschte bereits reges Treiben. Alle jungen Männer schienen den warmen Frühlingsabend nutzen zu wollen, um Sport zu treiben. Lucius schlenderte gemütlich über die Anlage und begutachtete fachmännisch die Ringer und Boxer. Er trainierte selbst seit einem Jahr regelmäßig und hatte nach Aussage seines Trainers Talent. Ein Warnruf veranlasste ihn, abrupt stehen zu bleiben, um nicht zur Zielscheibe für den Diskus zu werden. Er winkte seinen Freunden zu, die verdreckt und verschwitzt unter den Kolonnaden lagerten, wich noch schnell einigen Läufern aus und betrat den Umkleidebereich. Er zog sich rasch um und gesellte sich dann zu den anderen. Titus stand an eine Säule gelehnt und sah den Ringern zu, Quintus und Appius würfelten, während Sextus gerade seinen Becher aus dem Weinschlauch füllte.
„Lucius, du bist spät dran! Wir sind schon fertig mit unserem Training!“, begrüßte ihn Titus.
Lucius setzte sich. „Ich trainiere heute nicht mit euch. Mein Schwertkampftrainer ist eingetroffen!“, sagte er beiläufig. „Los, Sextus, gib mal den Schlauch rüber!“
Der Schlauch blieb auf halbem Weg hängen. „Dein WAS?“, fragte Sextus fassungslos.
„Mein Schwertkampftrainer!“ Lucius tat erstaunt. „Habe ich euch das nicht erzählt? Bestimmt habe ich das!“ Die anderen verneinten empört. „Es ist Pertinax, von der Statilischen Schule“, sagte Lucius, als wäre dies das Normalste der Welt.