Dem primi ordinis war das Zögern nicht entgangen. „Keine Sorge, ich klaue kleinen Jungs nicht ihre Briefe!“
Lucius nickte und setzte sich in Bewegung. Nach einigen Schritten bemerkte er, dass Valens ihn immer noch begleitete.
„Du willst wohl ganz sicher sein, dass ich das Lager auch verlasse!“, schnaubte er.
„Und den Wachen sagen, dass sie dich eher töten als wieder ins Lager lassen sollen!“, bemerkte Valens leichthin.
Lucius warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Das wäre dir wirklich zuzutrauen, du Scheißkerl und Leuteschinder.
„Du hast doch viel gelesen, Marcellus!“, stellte Valens plötzlich fest.
Lucius, über diese Eröffnung überrascht, nickte schweigend.
„Was hast du über den Krieg gegen die Cantabrer und Asturer gelesen?“, hakte Valens nach.
„Nicht viel!“, sagte Lucius und sah zu den Werkstätten hinüber.
„Da gibt es auch nichts Rühmenswertes zu schreiben!“, bemerkte Valens bissig. „Es war ein schmutziger Kleinkrieg. Bei jeder Patrouille, bei jedem Versorgungszug, bei jedem Fouragieren mussten wir mit einem Überfall rechnen.“ Lucius hörte gebannt zu, während sie sich dem Tor näherten. „Die Soldaten und Offiziere waren schlecht ausgebildet und machten viele Fehler. Es wurde erst besser, als Agrippa das Kommando übernahmen.“ Valens’ Tonfall wurde heftiger. „Wenn du siehst, wie deine Freunde und Kameraden um dich herum sterben, weil die Anführer Fehler machen, möchtest du die Welt verfluchen und diese Dilettanten eigenhändig einen Kopf kürzer machen. Denn die Fehler, die bei jenem Feldzug gemacht wurden, waren Anfängerfehler!“
Müde fuhr er fort:„Aber diese Anfänger haben das Kommando, weil ihr Vater reich ist und jemanden kennt, der jemanden kennt, und weil ihre Vorfahren bedeutend waren und weil sie sich bei den richtigen Leuten eingeschleimt haben!“ Sie waren am Tor stehen geblieben. „Sie hören auf nichts und niemanden, sondern gehen davon aus, dass sie jede Menge von Kriegführung verstehen. Weil sie viel darüber gelesen haben. Außerdem glauben sie, weil einer ihrer erlauchten Ahnen irgendwann mal irgendwo gegen irgendwen ein Scharmützel gewonnen hat, werden sie in kritischen Situationen von Mars persönlich Beistand erhalten!“
„Und deswegen hast du gedacht, den unerfahrenen Möchtegern-Centurio, der sich sein Amt nur erschlichen hat, vergraulen wir, indem wir ihn in den Tartarus versetzen!“, sagte Lucius herausfordernd. „Warum hast du mich nicht gleich totgeschlagen? Oder totschlagen lassen, ein primi ordinis macht sich sicher nicht selbst die Hände schmutzig.“
„Nein, dafür habe ich meine Leute!“, bestätigte Valens trocken. „Celsonius hätte dich liebend gerne abgestochen, dem solltest du nicht im Dunkeln begegnen!“ Valens grinste. „Ich habe ihm aber gesagt, wenn er wirklich Optio werden will, darfst du keinen tödlichen Unfall haben!“
Lucius starrte ihn mit offenem Mund an: „Moment! Verstehe ich das richtig? Celsonius wollte mich töten, und du hast es verhindert?“ Lucius konnte nicht glauben, was er da gehört hatte.
„Ja, fast!“, bestätigte der primi ordinis. „Ich habe ihn beauftragt, dir das Leben schwer zu machen!“ – „Und dafür hast du ihm versprochen, dass er Optio wird. Vorausgesetzt, ich habe keinen tödlichen Unfall!“, fasste Lucius zusammen. „Und Vulso und Antinius? Hast du die auch gegen mich aufgehetzt?“ Er erinnerte sich an die Schikanen und den nächtlichen Überfall.
„Die brauchte ich nicht aufzuhetzen. Die waren rasend vor Wut, ich musste ihre Wut nur in die richtigen Bahnen lenken!“
„Und dass du Carvus’ und Mellonius’ Zukunft zerstört hast und sie in ihrer Familie möglicherweise in Ungnade gefallen sind, ist dir egal?“, fragte Lucius hitzig.
„Scheißegal!“, sagte Valens eiskalt. „Wenn ich die Wahl zwischen dem Leben von zwanzig guten Männern und der Ehre eines reichen Pinkels habe, fällt mir die Wahl leicht. Dir etwa nicht?“
Stille. Lucius verstand. „Doch, mir auch“, sagte er tonlos.
Zum ersten Mal konnte Lucius Valens ohne Abscheu und Angst begegnen. Und irgendwie begann er zu verstehen, was diesen Mann zu dem gemacht hatte, der er war.
Es gab nichts weiter zu sagen. Lucius grüßte und wollte sich wieder in Bewegung setzen.
„Du hast der Augusta Ehre gemacht. Mögen dich die Götter beschützen! Achte auf deine rechte Seite, CENTURIO Marcellus!“, rief ihm Valens nach.
Lucius war froh, dass er Valens schnell den Rücken zukehren konnte, damit dieser nicht sein fassungsloses Gesicht sehen konnte.
„Du auch!“, rief er, ohne zurückzusehen, und hob den linken Arm zum Gruß. Dann ging er durch das Tor.
Valens sah ihm noch eine Weile nach. Als er bemerkte, dass der Wachposten ihn neugierig anstarrte, drehte er sich zu ihm um und sah ihn finster an. Der Legionär zuckte erschrocken zusammen und beeilte sich, aus dem Blickfeld des Centurios zu verschwinden. Valens lächelte und ging ins Lager zurück.
ENDE
GLOSSAR
Der römische Monat hatte nur drei Fixtage. Die Kalenden bezeichneten den ersten Tag eines Monats, die Nonen den fünften oder sechsten Tag, und die Iden den vierzehnten oder fünfzehnten Tag. Ob die Nonen und Iden auf den einen oder anderen Tag fielen, hing von der jeweiligen Monatslänge ab. Alle anderen Tage richteten sich nach diesen drei Fixpunkten aus. Bei Zeitangaben wurde immer rückwärts gerechnet, zum Beispiel „am Tag vor den Nonen, vier Tage vor den Kalenden“. Der römische Jahresbeginn war ursprünglich der erste März, daher auch die Bezeichnung von September bis Dezember als siebter bis zehnter Monat. 153 v. Chr. wurde der Jahresbeginn auf den ersten Januar verlegt. Die Monate Quintilis und Sextilis wurden später zu Ehren Caesars und Augustus’ in Juli und August umbenannt. Obwohl die Umbenennung des sechsten Monats in August erst 8 v. Chr. erfolgte, wird in diesem Buch der Lesbarkeit wegen und zum besseren Verständnis von August gesprochen.
Imperator (Kaiser)
Konsul
1. Rom
– Prätor Urbanus
– Duovir der colonia
2. Provinz
– Legatus Augusti pro praetore: Beauftragter des Kaisers, der ihm direkt unterstellte Provinzen verwaltet. Dies sind (bis auf Africa) alle Provinzen, in denen Legionen stehen.
– Prokonsuclass="underline" vom Senat bestellter Statthalter der übrigen Provinzen
Legat
Lagerpräfekt
Primipilus
Centurionen der 1. Kohorte: Primi ordines
Centurionen der 2. – 10. Kohorte: Optio ad spem, Signifer, Optio Miles gregarius (einfacher Legionssoldat, Legionär in der heutigen Bezeichnung)
In einer Kohorte gibt es sechs Centurien. Die Manipel, eine alte taktische Formation, wurden durch die Kohorte als taktische Einheit abgelöst. In den Rangstufen der Centurionen haben sich die Manipel-Bezeichnungen erhalten. In der Rangfolge der Manipel waren in ihrer Wichtigkeit die Pili (Triarier) vor den Principes und diese wiederum vor den Hastaten. Der erste Centurio (prior) eines Manipels stand über dem zweiten Centurio (posterior) des Manipels. Daraus ergibt sich folgende Rangordnung: