Lucius überlegte, was jetzt zu sagen sei. Er konnte sich zu erkennen geben und würde dadurch zum Klatschthema Nummer eins in Arausio werden. Seine Wahl zum König der Narren an den Saturnalien wäre auch gesichert. Das Schweigen dehnte sich.
„Nun?“ Die Ungeduld in der Frage war nicht zu überhören.
„Das ist der jüngste Sohn meiner Schwester!“, begann Saxum. „Sie will ihn zur Legion schicken, aber er war lange krank und ist deshalb schwach. Sie hat ihn zu mir geschickt, damit ich ihn wieder aufpäpple und ihm was beibringe. Nächstes, spätestens übernächstes Jahr wird er unter den Adlern dienen!“
„Und deine Schwester hat einen Esser weniger!“, vollendete der Quatrovir den Satz. Lucius grinste so einfältig wie möglich. „Wo wohnt ihr?“
„Ich arbeite auf dem Hof des Gnaeus Marcellus als Wächter. Mein Neffe wohnt zurzeit auch da!“ Der Quatrovir warf Lucius noch einen prüfenden Blick zu, bevor er zu seiner Kutsche zurückging. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und Lucius und Saxum setzten ihren Marsch fort.
Die seltsame Geschichte vom kranken Neffen verbreitete sich in Windeseile in der Umgebung, und fortan begegneten die Bewohner der Gegend dem seltsamen Paar mit weniger Misstrauen.
Der Herbst kam, und damit die Weinernte, bei der Lucius helfen musste, wie Gnaeus Marcellus es verfügt hatte. Lucius half den Arbeitern beim Reinigen aller Bottiche und Gefäße, die für die Ernte in Frage kamen. Sergius verpflichtete wieder Erntehelfer und Wächter.
„Werden denn die Wachen in der Nacht nicht kontrolliert?“, fragte Lucius erstaunt, nachdem die Wächter eingeteilt waren. Sergius schüttelte verwundert den Kopf: „Nein, warum sollte ich sie kontrollieren?“
„Weil …“, Lucius suchte nach den richtigen Worten. „Du hast die Männer doch eingestellt, damit sie die Weinberge bewachen! Und da musst du doch kontrollieren, ob sie das richtig machen“, wandte er ein. „Die Wachen in einem Lager werden doch auch von ihren Offizieren kontrolliert!“
„Mag sein!“, sagte Sergius gleichgültig. „Hier handelt es sich um Männer, die eingestellt wurden, um eine bestimmte Arbeit zu verrichten, und die Geld dafür bekommen. Sie bekommen ihr Geld nur, wenn sie ihre Arbeit richtig machen! Die Aufseher bekommen zusätzlich noch einen Bonus. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist ein Aufseher für die Aufseher!“ Sergius grinste über sein Wortspiel. Lucius nickte zustimmend. Das klang einleuchtend.
Die Weinernte erwies sich als hartes Stück Arbeit. Warum priesen eigentlich alle das Landleben in den höchsten Tönen? Die Trauben mussten sorgfältig mit dem gekrümmten Rebmesser abgeschnitten und in den Tragekörben gesammelt werden. Dabei schwitzte man den ganzen Tag in der prallen Sonne, nur durch einen Strohhut vor einem Sonnenstich geschützt, oder man wurde vom Regen durchnässt. Dann gab es die Tage, an denen sich die Götter nicht entscheiden konnten, ob sie der Sonne oder dem Regen den Vorzug geben sollten: Zuerst knallte die Sonne vom Himmel und im nächsten Moment zog sich der Himmel zu und ein Wolkenbruch ging nieder.
Und dann diese Rückenschmerzen. Solange man die Trauben in Augenhöhe abschneiden konnte, war das halb so schlimm. Aber die Trauben über dem Boden! Ständiges Bücken oder Knien, mit dem Korb auf dem Rücken, der zunehmend schwerer wurde. Erst, wenn der Korb voll war, wurde er zum Hof gebracht und ausgeleert. Auf dem Hof wurden die besten Trauben als Speisetrauben aussortiert und der Rest wurde zum Keltern vorbereitet. Wenigstens würde es am Ende der Strapazen ein Fest geben. Lucius konnte es kaum erwarten. Die Feste zur Weinernte waren in der Stadt schon lebhaft, wie mochte es erst hier auf dem Hof sein, wo die Menschen nicht nur den Gott Bacchus, sondern auch den erfolgreichen Abschluss der Ernte feierten?
Diese aussichtsreiche Belohnung all der harten Arbeit sollte Lucius allerdings nicht mehr erfahren, da ein Befehl seines Vaters ihn am Tage des Weinfestes nach Arausio zurückrief. Einen Tag, einen verdammten Tag mehr! Lucius fluchte wie ein Fuhrknecht. Bei Bacchus, hätte Vater ihn nicht einen Tag länger auf dem Hof lassen können? Er überlegte, einfach erst am folgenden Tag zu reisen, aber Sergius war unnachgiebig. Gnaeus Marcellus hatte befohlen, also hatte der Sohn zu gehorchen, so funktionierte die Welt. Er half ihm beim Packen und verabschiedete sich bis zum kommenden Jahr von ihm. Es war nicht zu erwarten, dass Lucius dieses Jahr noch einmal auf den Hof zurückkehren würde. In Begleitung von Pertinax und Saxum machte er sich widerwillig und enttäuscht auf den Weg nach Arausio.
ARAUSIO
„Wo ist Vater? Was ist so dringend, dass ich nicht einen Tag länger auf dem Hof bleiben konnte?“, fragte Lucius herausfordernd.
Gaius musterte seinen Bruder aufmerksam. „Vater ist beschäftigt. Er will, dass du morgen als mein Schreiber an einer Stadtratssitzung teilnimmst. Außerdem sollst du nach Massilia reisen und mit Krateros die Bedingungen für den diesjährigen Weintransport aushandeln. Das soll deinen geistigen Horizont erweitern.“
Lucius schnaufte ungehalten. „Mein geistiger Horizont braucht nicht erweitert zu werden, ich bin schließlich kein Kind mehr!“
„Nein“, bestätigte Gaius sachlich, „aber sehr einseitig interessiert. Es kann nicht schaden, mal andere Aspekte des Lebens mitzubekommen! Also morgen früh – und vergiss nicht, deine Toga anzulegen!“ Und mit einem Nicken war Lucius entlassen.
So kann es nicht weitergehen, dachte er verärgert, jeder darf mich herumkommandieren, Pertinax, Saxum, Sergius und jetzt auch noch Gaius. Alle behandeln mich wie ein kleines, dummes Kind. Lange würde er sich das nicht mehr gefallen lassen. Früher oder später würde er ihnen zeigen, was in ihm steckte. Sehr bald.
Er hatte einen weiteren Brief von Marcus bekommen. Für Marcus war dies ein gutes Jahr gewesen. Er hatte Erfolg bei seinen Unternehmungen gehabt und außerdem war seine Frau schwanger.
Auch Julia, die Frau des Agrippa, ist wieder schwanger. Wie hat er das hinbekommen? So selten, wie er in Rom ist. Große Freude auf jeden Fall im Haus des Antonius, verzeih, im Haus des Agrippa. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es wieder ein Sohn wird. Der kleine Gaius wird ein Brüderchen bekommen! Augustus war bereits bei der Geburt seines ersten Enkels ganz aus dem Häuschen. Aber jetzt, da Julia und Agrippa ihn erneut zum Großvater machen, ist er großzügig wie nie. Man erzählt sich, dass er beim Würfeln gegen Marcus Vinicius und Marcus Lollius große Summen verloren und Gewinne nicht eingefordert hat.
Gegenüber den Senatoren ist er nicht so großzügig gewesen. Die Kommission der Dreißig leistete ihre Arbeit mehr schlecht als recht. Das war ein Geschachere, das ganze Jahr über! Die Ex-Senatoren und Möchtegern-Wieder-Senatoren haben miteinander gefeilscht und gekungelt wie die Markthändler, um vorgeschlagen zu werden. Da haben bestimmt horrende Summen den Besitzer gewechselt. Es dauerte eine geraume Zeit, dann waren zuerst 300 und schließlich und endlich 600 neue Senatoren ernannt.
Niemand war mit dem Ergebnis zufrieden. Als man genau hinsah, flogen all die Bestechungen und Schwindeleien auf. Also hat Augustus eine ganze Reihe neu ernannter Senatoren wieder hinausgeworfen und kurzerhand eigene Kandidaten ernannt. Da gab es wieder großes Geschrei, und es erfolgte eine Korrektur der Korrektur. Doch das Thema ist nun erledigt. Jedoch ist keiner glücklich mit der Situation. Einige Ex-Senatoren führen sich auf, als ob ihre Familie seit Jahrhunderten im Senat gewesen wären. Dabei sind viele erst unter Caesar freigelassen und zum Senator ernannt worden. O Tempora, o Mores.