„Was?“, fragte Lucius überrascht. „Das mache ich doch schon, seit ich sechs Jahre alt bin!“
„Ja, aber mittlerweile bist du ein junger Mann und Sabellia ist eine junge Frau, und sie sagen, es schickt sich nicht, über die Hofmauer zu steigen!“ Julia machte eine Pause und fügte dann streng hinzu: „Ich bin ihrer Meinung!“
„Ich aber nicht!“, antwortete Lucius von oben herab. „Ich bin gut genug, um mit Sextus zu spielen, aber dann soll ich um die ganze Insula laufen, anstatt von unserem Garten aus einfach über die Mauer zu klettern?“ Lucius verkniff sich die Bemerkung, was Rogata und Titus ihn konnten, und riss die Tür auf.
„Ich bin im Bad!“, rief er Julia noch kurz zu und schlug die Tür donnernd hinter sich zu.
Das letzte, was er von seiner Schwägerin vernahm, war so etwas wie: „Sei wenigstens heute pünktlich zur Cena wieder da!“ Was für eine blöde, überflüssige Bemerkung, dachte sich Lucius. Frauen waren doch zu albern – als ob er bei seinem Hunger das Abendessen verpassen würde.
Julia sah Lucius seufzend nach. Gab es etwas Schlimmeres als heranwachsende Männer? Gerade in der Zeit, bevor sie die Bulla ab- und die toga virilis anlegten, waren sie besonders unausstehlich. Julia wusste, wie das war, sie hatte selbst zwei Brüder. Sie waren genauso gewesen. Sie konnten die Bulla gar nicht schnell genug loswerden. Immer wieder mussten sie ermahnt werden, sie umzuhängen. Das Amulett beschützte sie, bis sie richtige Männer waren. Aber welcher Sechzehnjährige würde schon zugeben, noch kein Mann zu sein, besonders, wenn er einem Mädchen nachstellen wollte? Lucius hatte in den letzten Monaten mehrmals seine Bulla „vergessen“ und Julia fragte sich, wer die Glückliche war. Sie hatte ihrem Mann Gaius nichts davon gesagt, da Männer schnell vergaßen, dass sie selbst einmal jung gewesen waren. Das Letzte, was Lucius brauchte, war eine Moralpredigt seines ältesten Bruders. Sie musste mit Gaius reden. Lucius brauchte dringend eine Beschäftigung, die ihm das Gefühl gab, erwachsen zu sein und ernst genommen zu werden. Und die ihn davon abhielt, Dummheiten zu machen.
Auf der Straße schlug Lucius ein gemäßigtes Tempo an. Er war wütend über Julias Ermahnungen, aber nicht so blind vor Zorn, dass er einen Sturz in den Straßendreck riskieren wollte. Unter den Kolonnaden herrschte auf den Bürgersteigen viel Betrieb, deshalb kam er auf der Straße besser voran. Jetzt am Nachmittag strotzte sie nur so vor Schmutz und Unrat. Die Ladenbesitzer hatten begonnen, ihre Geschäfte aufzuräumen, da es bald Zeit war, sich mit der Familie zur Cena niederzulassen. Sie kippten ihren Dreck einfach auf die Straße und kehrten. Mit dem Abfall, der sich den Tag über sonst noch ansammelte, gab das eine ziemliche Schweinerei. Fußgänger mussten aufpassen, wenn sie nicht ausrutschen und unter allgemeinem Gelächter auf dem Hintern landen wollten. Außerdem würden ihm Gaius und Julia wieder einen Vortrag über die dignitas der Familie halten, wenn Lucius zu schnell ging. Es schadet dem Ansehen der Familie, wenn der Sohn des Gnaeus Justinius Marcellus, Präfekt des Augustus bei Gründung der colonia Arausio und Freund und Kampfgefährte des besten Generals des Imperiums, Marcus Agrippa, wie ein hergelaufener Tagelöhner durch die Straßen rennt. Er konnte ihre Stimmen in seinem Kopf förmlich hören. Und jetzt noch die Sache mit Sabellia. Was wollte Rogata eigentlich? Er hatte schließlich keinen Annäherungsversuch gemacht, und selbst wenn, könnte sich die Familie geehrt fühlen, dass ein Justinius Marcellus sich für ihre Tochter interessierte. Nicht als Ehemann natürlich, Sabellia war nun einmal nicht standesgemäß. Vielleicht sollte ich mal einen Annäherungsversuch unternehmen, dachte er bei sich, als er die Ecke der Insula erreichte. Wie immer stieg ihm an dieser Ecke der Geruch der Bäckerei in die Nase. Gab es einen schöneren Geruch als den von frisch gebackenem Brot? Gab es etwas Schmackhafteres, wenn man Hunger hatte? Von allen Erfindern, die die Menschheit je hervorgebracht hatte, musste der Erfinder des Brotes ein besonderer Liebling der Götter gewesen sein. Lucius sah mit hungrigen Augen auf die Auslage. Die Frau des Bäckers sah seinen Blick. Sie hob ein Brot hoch und hielt es ihm hin. Er nickte heftig, und sie warf es ihm zu. Er hatte einige Mühe, den warmen Laib mit einer Hand zu fangen und festzuhalten. Er biss hinein und hielt das Brot mit den Zähnen fest, während er nach einer Münze suchte. Endlich hatte er eine gefunden und warf sie der Bäckerin zu, die sie geschickt auffing und ihm einen Gruß zurief.
Er biss ein großes Stück ab. Bei dem Geschmack des frischen Brotes merkte er, wie sich sein Ärger ein wenig legte. Zufrieden kauend ging er weiter die Straße entlang, grüßte Bekannte und nickte wichtig, wenn ihm Klienten seines Vaters und seines Bruders Grüße auftrugen. Er erreichte das kleine Badehaus am Ende der Straße und zahlte sein Viertel As.
„Keine Massage heute, junger Herr Lucius?“, fragte der Pächter ein wenig enttäuscht.
„Nein! Es ist schon spät. Ich will mich nur säubern und ein wenig im warmen Wasser liegen!“
Nachdem er sich ausgezogen hatte, ließ er sich säubern. Er wurde mit Öl und Sand eingerieben. Anschließend schabte der Badediener das Gemisch mit dem Strigilis wieder von seiner Haut. Lucius wusch sich im Kaltwasserbecken sauber und beeilte sich dann, in das Caldarium, das Warmwasserbecken, zu kommen. Er grüßte die anderen Badegäste und begann, vor sich hin zu dösen und über seine Zukunft nachzudenken.
Er dachte in letzter Zeit sehr viel über seine Zukunft nach, da er keine Ahnung hatte, was aus ihm werden sollte. Sein Vater war seit vier Jahren im Osten unterwegs und konnte nur brieflich mit der Familie verkehren. Seine Zukunftsplanung war aber kein Thema, das Lucius per Brief mit seinem Vater diskutieren wollte. Schon im direkten Gespräch war sein Vater ausgesprochen kurz angebunden und hatte keine Zeit für lange „Schwafeleien“, wie er es immer ausdrückte. Allerdings war nach vierzig Jahren in der Legion für seinen Vater jede Rede Schwafelei, die länger als drei Sätze war, und jede Rückfrage fast ein Kapitalverbrechen. „Warum soll ich denn Rhetorik lernen?“, hatte Lucius daher kurz vor Vaters Aufbruch erstaunt gefragt, als dieser ihm Asteros als Lehrer vorgestellt hatte. Gnaeus Marcellus hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen, bevor er mit erzwungener Ruhe sagte: „Weil ich es so will und weil es dir später einmal nützlich sein kann!“
Die Reihenfolge war Lucius nicht entgangen.
Mit seinem zweiten Bruder Marcus hätte er manchmal gerne über die Dinge gesprochen, die ihn beschäftigten. Marcus und er hatten sich immer gut verstanden und viel Unsinn im Kopf gehabt. Gaius, der Älteste von ihnen, der vernünftige Gaius, wie sie ihn immer nannten, hatte sie oft getadelt, aber Marcus hatte sich nicht darum geschert.
Dann war Marcus mit Vater vor vier Jahren nach Rom gereist. Wie hatte Lucius ihn beneidet! Aber Marcus war nicht zurückgekehrt. Eines Tages kam ein Brief von Vater, der ihm mitteilte, dass Marcus nicht mehr sein Bruder sei. Lucius war entsetzt und verwirrt, als ihm Gaius erklärte, dass ein Ritter namens Lucius Cornelius Plautus Marcus adoptiert hatte. Plautus hatte keine eigenen Söhne, und so war aus Marcus Justinius Marcellus Marcus Cornelius Plautus geworden. Lucius hatte es sehr verwirrt, dass sein Bruder plötzlich einen anderen Namen hatte. Im Gegensatz zu Lucius brauchte sich Marcus um die Zukunft nun keine Gedanken mehr zu machen. Als Sohn eines reichen Ritters würde er einfach irgendwann das Geld seines Adoptivvaters erben.
Gaius, der vernünftige Gaius, hatte konkrete Vorstellungen, wie Lucius’ Lebensweg aussehen sollte. Leider deckten sich diese überhaupt nicht mit Lucius’ Vorstellungen. Vor einigen Tagen hatte er sich bei Gaius über seinen Rhetorikunterricht beschwert. Auf Gaius’ Frage, warum er so schlechte Laune habe, hatte er geantwortet: „Ach, nichts Besonderes. Asteros’ Unterricht war wieder zum Einschlafen. Bei Minerva, der Göttin der Weisheit, warum muss ich jede Rede, die in Rom jemals gehalten wurde, auswendig lernen und vortragen? Was soll ich damit? Ich würde lieber in der Palaestra mit meinen Freunden trainieren. Von denen muss keiner Rhetorik lernen. Sie stehen kurz davor, die Toga der Männer anzulegen und in die Welt der Erwachsenen einzutreten, und ich muss immer noch lernen. Sie helfen ihrer Familie, sie reisen und kommen herum. Appius war sogar schon einmal in Narbo.“