Aber Gaius hatte nur Spott für ihn übrig gehabt. „Oh, ihr Götter!“ Er hob die Arme zum Himmel, als ob er beten wollte. „Seht diesen armen, geknechteten Mann und erbarmt euch seines Schicksals! Wie lange, Lucius, willst du unsere Geduld noch missbrauchen? Wie lange soll diese deine Raserei ihr Gespött mit uns treiben?“ Lucius lief dunkelrot an und war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren, als er Gaius eine der berühmtesten Reden von Cicero zitieren hörte. Ehe er aber etwas sagen konnte, ließ Gaius seine Arme sinken und fuhr im normalen Tonfall fort: „Du müsstest dich mal selber hören. Andere Jungen in deinem Alter stehen jetzt gerade auf den Feldern und arbeiten noch bis zum Dunkelwerden. Das Schwerste, was du heute schon gehoben hast, sind deine Schriftrollen. Du hast Glück, dass du eine Schule besuchen und Rhetorik lernen kannst. Das wird dir bei Geschäftsverhandlungen nützlich sein. Vielleicht wirst du später ein öffentliches Amt bekleiden. Dann musst du in der Lage sein, vor vielen Menschen zu reden. Mit deiner Ausbildung in Rhetorik und Juristik kannst du als Anwalt Fälle vor Gericht vertreten. Du kannst dich zum Ädil oder Duovir wählen lassen. Du hast viele Möglichkeiten, aber vorher musst du studieren!“
Anwalt oder Ädil in Arausio, Lucius stöhnte so laut auf, dass die anderen Badegäste erschrocken zu ihm sahen. Schrecklicher Gedanke, als ob er sein ganzes Leben in dieser kleinen colonia versauern wollte. Gaius kannte Lucius’ heimlichen Wunsch nicht, seinen Traum, der zum ersten Mal im Alter von fünf oder sechs Jahren in ihm aufgestiegen war, als sie an einer Mansio rasteten. Lucius hatte so gebannt den Abenteuern eines ehemaligen Legionärs zugehört, dass sein Vater ihn schließlich verärgert wegzerren musste. Auf der Weiterreise bestürmte Lucius seinen Vater mit Fragen und wollte wissen, ob seine Soldatenzeit auch so aufregend gewesen sei. „Höre bloß nicht auf diesen Aufschneider!“, sagte Gnaeus Marcellus. „Das Leben in der Legion ist nicht so unterhaltsam!“ Dann erzählte er Lucius ein paar Geschichten, um ihm einen richtigen Eindruck zu vermitteln. Lucius konnte keinen Unterschied erkennen. All das hörte sich für ihn fremdartig, abenteuerlich und faszinierend an. In diesem Moment stand für ihn fest: Er wollte später ebenfalls dem Imperium dienen, wie sein Vater. Erst hatte sein Vater gekämpft, um Gallien zu erobern, und dann, um den schrecklichen Bürgerkrieg zu beenden. Er hatte beim Wiederaufbau geholfen und drei Jahre lang für Agrippa in der Provinzverwaltung von Gallia Comata gearbeitet. Er hatte bei der Ansiedlung der Veteranen in Arausio und Forum Julii geholfen. Jetzt war er im Osten, um im Krieg und in Verhandlungen mit den Parthern seine Pflicht zu erfüllen. Dazwischen war er immer wieder wie Cinncinatus auf seinen Hof zurückgekehrt und hatte sein Land bearbeitet.
So stellte sich Lucius auch seine Zukunft vor. In die Welt ziehen, um dem Imperium zu dienen. Drei, vier Jahre als Militärtribun, danach wichtige Aufgaben in der Provinzverwaltung, Feldzüge in ferne Länder, Parthien und Ägypten, ins sagenumwobene Britannien, Kämpfe gegen riesige Germanen, reiche Städte, die man plündern konnte. Veteranen ansiedeln, Provinzen verwalten und zwischendurch auf sein eigenes Landgut zurückkehren, voller Ehren, immer bereit, wieder gerufen zu werden.
Diesen Traum hatte er aber für sich behalten. Stattdessen hatte er seinen Vater weiter nach Geschichten ausgefragt. Seiner Mutter war das gar nicht recht gewesen, deshalb hatte sein Vater ihm nicht viel erzählt. Also musste Lucius andere Informationsquellen erschließen, doch das war ein Leichtes. Immerhin war Arausio eine Veteranenkolonie, und ehemalige Legionäre erzählten für ihr Leben gern von der guten alten Zeit bei den Adlern. Lucius hatte viele aufregende Geschichten gehört. Außerdem hatte er Caesars Kommentare über den gallischen Krieg und den Bürgerkrieg gelesen, Sallusts Geschichte über den Krieg gegen Jugurtha, Polybios’ Schriften zum Krieg gegen Hannibal. Mit seinem Onkel, Gnaeus Pompeius, dem jüngeren Bruder seiner Mutter, hatte er stundenlang geographische Bücher gewälzt und Gnaeus hatte ihm anvertraut, dass er beabsichtigte, ein großes geographisches und historisches Werk zu schreiben. Daher trug er seit Jahren alle möglichen Schriften alter Autoren zusammen. Neben denen bekannter römischer Autoren, wie Varro und dem älteren Cato, hatte er auch Texte einiger längst vergessener Griechen ausgegraben. Wer hatte je von Ephoros gehört? Sein Onkel stand mit Nepos, Livius und einem jungen Griechen namens Strabo in regem Schriftverkehr. Onkel Gnaeus hatte ein Vermögen ausgegeben, um alle vierzig Bände von Diodoros Siculus zu erwerben, die dieser im Laufe von dreißig Jahren herausgebracht hatte. Gemeinsam hatten sie in diesen Texten gestöbert. Das alles hatte Lucius’ Fernweh nur noch mehr gefördert. Er hatte mit seinem Vater und dem Onkel in den Osten reisen wollen, aber immer hieß es: „Du bist noch zu jung!“, oder: „Das ist keine Vergnügungsreise.“
So schnell hatte Lucius aber nicht aufgeben wollen. In seinem letzten Brief hatte er Onkel Gnaeus gefragt, ob er ihn auf seiner nächsten Forschungsreise begleiten dürfte, als Sekretär oder so, aber Onkel Gnaeus hatte bedauernd abgelehnt, da er die nächste Zeit mit Schreiben und nicht mit Reisen verbringen würde. Lucius solle ruhig in Arausio bleiben und weiter lernen. In Arausio bleiben! Was erwartete ihn denn in Arausio? Er würde zuerst zum Quästor gewählt werden und sich um die Stadtkasse kümmern. Wie aufregend! Damit gelangte er automatisch in den Stadtrat und würde dann, nachdem er sich ein paar Jahre lang den Hintern platt gesessen hatte, zum Ädil und in Folge zum Duovir gewählt werden. Ein Amt, das jeder Trottel bekleiden konnte, vorausgesetzt, er war Mitglied des Stadtrates und erreichte das entsprechende Alter. Aber als Justinii Marcellii stand es außer Frage, dass er, wenn er mit fünfunddreißig Jahren noch am Leben wäre, zum Duovir gewählt werden würde. Bis dahin würde er im Stadtrat versauern, den Weinhandel leiten und im Herbst die Weinernte auf dem Hof beaufsichtigen. Dieses Schicksal sah Lucius unweigerlich auf sich zukommen, und nichts würde es ihm ersparen. Er konnte kein Tribun werden. Tribune waren entweder Söhne von Senatoren oder Söhne von Rittern. Sein Vater war weder das eine noch das andere. „Ich weiß!“, fauchte Lucius ins Leere. „Deshalb werde ich hier in Arausio ‚Karriere’ machen. Schreiber bei meinem Bruder, dann eigene Aufgaben und als oberstes Zieclass="underline" persönlich Verhandlungen in ‚fernen’ Städten wie Lugdunum, Massilia oder Narbo zu führen.“ Wenn kein Wunder geschah, wäre die einzige andere Karriere, die ihm blieb, der Eintritt in die Legion als Miles, als einfacher Soldat. Dann könnte er in zehn oder zwanzig Jahren zum Centurio aufsteigen und danach in den Verwaltungsdienst einer Provinz wechseln. Diesen Weg wollte Lucius aber ganz und gar nicht einschlagen. Miles! Er schüttelte den Kopf. Er war ein Justinii Marcellii, einer seiner Vorfahren war bereits Ritter gewesen und ein Gefolgsmann des legendären Gaius Marius. Lucius suchte eine bequemere Position und sinnierte weiter.
Er hatte Mars ein Opfer gebracht und um ein Wunder gebeten. Vielleicht sollte er auch noch Apollo ein Opfer bringen und ihn um Hilfe bitten, überlegte Lucius. Apollo war immerhin der Schutzgott von Augustus – und wenn nicht der Princeps, wer konnte dann für Hilfe sorgen? Gleich auf dem Heimweg würde er Apollo ein Opfer bringen – und Fortuna natürlich, denn Glück war auch nicht zu verachten. Hatten nicht Sulla und Caesar ganz fest auf ihr Glück vertraut und am Ende ihre Feinde besiegt?