Lucius hatte es tatsächlich fast pünktlich zur Cena geschafft. Er lag auf seiner Cline, steckte sich eine Traube in den Mund und musterte dabei gedankenverloren die Wandbemalung im Triclinium, wie er es schon hundert Mal getan hatte. Dem Bacchus dort fehlte ein Finger, Schlamperei des Malers, und einer Muse fehlte ein Teil des Gesichts. Ein betrunkener Gast hatte einen leeren Becher gegen die Wand geworfen und dabei hatte Erato ihr Gesicht verloren. Auch ein Wasserschaden war zu erkennen, wenn man wusste, wo er gewesen war. Gaius könnte ruhig mal den Putz abschlagen und neue Malereien auftragen lassen. Vielleicht sollten sie mal die Plätze tauschen, um einen neuen Blick, eine neue Perspektive zu gewinnen. Wenn er mit Julia den Platz tauschen würde, hätte er den Blick auf den Schwur der Horatier, ein schönes, patriotisches Motiv, und von Gaius’ Platz aus würde er direkt auf die Bibliothek sehen und den größten Teil des Atriums überblicken können. Das wäre doch mal was anderes.
„Lucius?“ Gaius’ Stimme sickerte langsam in sein Bewusstsein und er schreckte auf. „Schläfst du mit offenen Augen? Ich möchte wissen, wo du wieder mit deinen Gedanken bist.“
Besser nicht, dachte sich Lucius und griff nach seinem Weinbecher. „Was denn?“, fragte er mürrisch.
„Es ist ein Brief von Vater eingetroffen, den ich nach dem Essen vorlesen möchte!“, erklärte Gaius mit dieser belehrenden Ruhe, die Lucius jedes Mal in Rage versetzte, weil er sich wie ein kleines Kind vorkam, wenn Gaius so mit ihm sprach. Sie hatten schon eine Weile nichts von Vater gehört. Lucius schluckte seinen Ärger herunter und sah Gaius erwartungsvoll an, während dieser den Brief aus dem Behälter zog und entrollte.
Gnaeus Marcellus grüßt seine Söhne,
ich bin noch in Syrien, aber eure Onkel Gnaeus und Sextus befinden sich auf dem Heimweg. In dem Moment, in dem ihr diesen Brief erhaltet, werden sie bereits in Rom sein. Sextus wird sich von dort aus auf den Weg nach Arausio begeben und einen Gast mitbringen.
Mir geht es gut und ich bin zuversichtlich, Ende des Jahres in Italien und vielleicht sogar in Arausio zu sein. Ich breche auf, wenn Augustus aufbricht. Er hat noch einige Angelegenheiten zu regeln. Wir werden zunächst nach Griechenland ziehen und von da aus weiter nach Brundisium reisen. Irgendwann im Sextilis oder September werde ich Rom erreichen. Ob ich von dort sofort weiterreisen kann, wird sich dann entscheiden.
Wie es aussieht, stehen unserer Familie große Veränderungen bevor. Wir werden neue Wege beschreiten. Sextus hat einige Instruktionen für euch, befolgt sie als gehorsame Söhne.
Jupiter beschütze euch.
Es grüßt euer Vater Gnaeus Marcellus
Lucius sah verwirrt und enttäuscht auf. „Das ist aber wenig. Ein bisschen ausführlicher hätte es schon sein dürfen.“
Auch Gaius wirkte verärgert. „Er scheint vergessen zu haben, dass wir inzwischen vier Jahre älter und damit keine Kinder mehr sind. Was soll diese Geheimnistuerei? Neue Wege beschreiten! Und was sind das für Instruktionen? Was ist das für ein Gast?“
Er sah Julia an, als ob sie eine Antwort wissen müsste. Julia zuckte mit den Schultern und sagte, ganz die praktische Hausherrin: „Durch Lamentieren werden wir auch nicht mehr erfahren, aber es müssen Vorbereitungen für zwei Gäste getroffen werden!“
Gaius nickte und rief Richtung Atrium: „Stephanos!“ Es dauerte einen Augenblick, dann waren Schritte zu hören, die sich näherten. Der massaloitische Hausverwalter betrat das Atrium. „Ja, Herr?“
„Unser Onkel Sextus wird uns in einigen Tagen besuchen und er bringt einen Gast mit! Bereite alles vor!“
„Ja, Herr!“ Stephanos blieb stehen und fragte: „Wie groß wird die Begleitung sein? Werden die Gäste mit Frauen reisen?“
Gaius schüttelte den Kopf. „Sextus’ Frau ist in Lugdunum. Ob der Gast eine Frau mitbringt, weiß ich nicht und wie groß das Gefolge ist, weiß ich auch nicht. Sie haben eine weite Reise hinter sich, also werden es nicht mehr als vier oder fünf Begleitpersonen für beide zusammen sein. Bereite alle Eventualitäten vor!“ Stephanos ging hinaus. Gaius blickte wieder in die Schriftrolle. „Was hat Vater nur wieder im Sinn?“
Lucius hatte ungeduldig auf die Ankunft der Gäste gewartet. Nun stand die Sänfte seines Onkels vor der Haustür. Die große, massige Gestalt von Sextus Pompeius Trogus, dem jüngsten Bruder von Lucius’ Mutter, wälzte sich heraus. Sein Vater war Caesars Kanzleichef in Gallien gewesen. Die Familie hatte vom gallischen Krieg nicht schlecht profitiert. Sextus stellte diesen Wohlstand gern zur Schau. Außerdem hielt er es für vornehmer, getragen zu werden, statt zu gehen. Seine große Gestalt war um die Hüften noch ein wenig mehr in die Breite gegangen. Offensichtlich wurde im Osten gut gekocht.
Aus der Sänfte stieg noch ein zweiter, viel jüngerer Mann von vielleicht achtzehn Jahren. Er war dunkel gebräunt wie ein Orientale oder ein Afrikaner, aber sein fein geschnittenes Gesicht entlarvte ihn als Römer.
Gaius begrüßte die Gäste. „Sextus Pompeius, sei willkommen in unserem Haus!“
Sextus dankte und winkte Lucius, näher zu kommen. „Das ist euer Vetter Gaius Justinius Marcellus Syros“, stellte er den jungen Mann vor. „Er ist Gaius Marcellus Pius’ zweiter Sohn. Er ist mit eurem Vater von Antiochia nach Rom gereist.“
„Du lebst im Osten?“, rief Lucius aufgeregt. „Davon musst du mir erzählen!“
Sein Bruder wies ihn zurecht: „Lucius! Zuerst solltest du unseren Gast begrüßen. Willkommen, Gaius Justinius, in unserem Haus. Ein Namensvetter unter demselben Dach, das wird für einige Verwirrung sorgen!“
Dieser lachte: „Nennt mich Syros! Das machen alle. Als erster Justinii Marcellii, der im Osten geboren wurde, hat man mir diesen Beinamen gegeben, auch um Verwechslungen mit meinem Vater zu vermeiden.“
„Wo ist euer Gepäck?“, fragte Gaius.
„An der Herberge am Südtor!“, antwortete Sextus. „Wir wollten nicht das ganze Gepäck am Tor auf Träger umladen. Da die Wagen vor Sonnenuntergang nicht in die Stadt dürfen, müssen sie eben warten. Diese Bündel enthalten die wichtigsten Sachen, die wir brauchen.“
„Dann nehmt jetzt ein Bad und macht euch frisch!“, sagte Gaius. „Ich werde unterdessen das Abendessen vorbereiten lassen.“
Das Triclinium war zwar großzügig bemessen, aber für fünf Personen dennoch ein wenig eng. Stephanos hatte vier Clinen und für Julia einen Stuhl aufstellen lassen. Es schickte sich natürlich nicht, dass Gaius’ Frau mit Gästen zu Tisch lag, selbst wenn diese wie Sextus und Syros zur Familie gehörten.
„Euer Vater hat mir Briefe für euch mitgegeben!“ Sextus pellte sorgfältig seine Eier aus der Schale. „Ja, und er meinte, vielleicht ist er schon Großvater, wenn er Ende des Jahres nach Hause kommt!“, warf Syros anzüglich ein und knabberte genüsslich an einer Stange Porree. Gaius funkelte ihn an. „Oh, Marcus wird Vater?“, bemerkte Julia leichthin. „Das hat er in seinem letzten Brief gar nicht erwähnt?“
Syros setzte ein verschmitztes Lächeln auf. „Äh, nein, nicht Marcus, er dachte dabei an seinen anderen Sohn!“
„Lucius!“, sagte Julia mit gespieltem Entsetzen. „Du hast ein Mädchen geschwängert und es uns nicht gesagt? Wer ist es?“
Lucius setzte eine betont ernste Miene auf. „Caesars Frau!“, rief er in die Runde.
„Aber die muss über jeden Zweifel erhaben sein!“, ergänzte Gaius lachend.
Dieser Ausspruch über Caesars Frau war ein Klassiker und wurde häufig auf der Bühne benutzt. Was es mit Caesars Frau auf sich hatte, wusste keiner mehr. Irgendetwas hatte es mit dem berüchtigten Volkstribun Clodius zu tun, Details waren unwichtig. Allein die Forderung Caesars, eines stadtbekannten Ehebrechers, an seine Frau, über jeden Zweifel erhaben zu sein, erheiterte die Römer noch eine Generation später über die Maße. Gaius spuckte vor Lachen ein Stück Thunfisch aus, das im hohen Bogen in seinem Trinkbecher landete. Syros japste lachend auf, Sextus hielt sich den Bauch: „Seit wann versuchst du Maecenas in den Schatten zu stellen? Mulsum mit Thunfisch? Ein wahrer Gaumenschmaus für Epikureer!“, stieß er mühsam hervor.