„Das beweist, wie schwach sie sind! Sie müssen schon Kinder zu Häuptlingen ernennen!“, tönte Lugurix weiter.
„Quatsch!“, rief einer der Krieger dazwischen. „Die beiden Römer sind furchtlos in unsere Mitte gekommen!“
Lugurix wollte aber nichts dergleichen hören, er steigerte sich in einen Wutanfall hinein und schimpfte weiter, prahlte damit, dass er jederzeit die Römer besiegen könne, und schalt alle Männer, die sich ergeben wollten, Feiglinge.
Cingetorix hörte eine Weile zu, dann hob er seinen Speer mit dem linken Arm und schleuderte ihn. Schlagartig wurde es still. Lugurix, der gerade eben noch laut für den Kampf gesprochen hatte, lag von dem Speer durchbohrt tot auf der Erde. Blut quoll aus seiner Brustwunde und bildete um ihn herum rasch eine Lache. Die Krieger schauten entsetzt von Lugurix zu Cingetorix, als erwarteten sie, dass diesen sogleich ein Blitz niederstrecken würde. Er hatte mit dieser Tat einen Frevel gegen die Götter begangen und musste dafür bestraft werden.
Aber Cingetorix stellte sich breitbeinig vor sie: „Ich bin bereit, die Strafe von Lik auf mich zu nehmen, wenn die Göttin meint, dass diese Tat bestraft werden muss!“ Sein Auge musterte die anderen Häuptlinge und die Krieger. „Ich bin aber nicht mehr bereit, diesen Wahnsinn weitergehen zu lassen!“ Er erhob seine Stimme, zornig und streng: „Dort hinten lagert ein römisches Heer! Dieses Heer hat in diesem Sommer gegen die helvetischen Stämme gekämpft. Es hat die Caluconen vernichtet und die Briganten und Estionen unterworfen. Wir haben selbst zwei schwere Niederlagen erlitten. In einem Sommer!“ Die letzten Worte brüllte er hinaus.
„Dieses Heer“, er zeigte nach Süden, „hat jetzt mehrere Monate lang ununterbrochen gekämpft und ist ununterbrochen marschiert, und doch ist es immer noch achttausend Mann stark.“ Er zeigte auf die Krieger. „Und was haben wir? Dreitausend Kämpfer, wenn es hochkommt! Der Rest geflohen, gefangen oder tot! Was wird aus unseren Familien, wenn wir jetzt auch sterben? Dann ist niemand mehr da, der sie beschützen kann. Wohin sollen sie gehen? Bleiben sie hier, werden die Römer sie schänden und versklaven. Fliehen sie nach Norden, werden die Germanen sie schänden und versklaven.“
„Aber, wenn wir uns unterwerfen, werden wir versklavt!“, protestierte einer der Häuptlinge. „Lieber tot als Sklave!“
Die Männer stimmten zu.
„Gut, einverstanden. Dann geh hin und töte als Erster deine Familie!“, sagte Cingetorix entschieden. „Jeder, der kämpfen will, soll zuerst seine Familie töten, damit sie den Römern nicht in die Hände fällt.“ Er zeigte auf den Häuptling: „Fang du an, Boiorix. Deine Mutter und deine Frau zuerst. Dann deinen ältesten Sohn und am Ende deine zweijährige Tochter!“
Boiorix war aschfahl geworden: „Du bist wahnsinnig. Lik hat deinen Verstand vernebelt!“
„Nein, euren!“ Cingetorix war diese Großsprecherei satt. Er durfte jetzt nicht nachgeben. „Was wird passieren, wenn wir im Kampf gefallen sind? Dann werden die Römer kommen. Sie werden die Alten töten, denn die sind nutzlos. Die Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, und die Kinder werden versklavt! Aber das kümmert euch nicht mehr, ihr seid ja dann tot und aller Sorgen ledig!“
„Was sollen wir denn tun?“, flüsterte Boiorix.
„Wenn wir uns jetzt unterwerfen, werden wir am Leben bleiben. Unsere jungen Männer werden für die Römer kämpfen müssen, wir werden Tribute an die Römer zahlen, aber unsere Jungen und Mädchen werden zu Männern und Frauen heranwachsen können. Wir werden unsere Felder bestellen können.“
„Und werden von einem römischen Statthalter regiert!“, ergänzte Boiorix bissig.
„Oder von einem germanischen König oder von einem Sklavenaufseher oder gar nicht mehr“, versetzte Cingetorix. „He, du!“ Er winkte einen der jüngeren Krieger heran. „Komm mal her!“ Der Junge war höchstens vierzehn Jahre alt. Er stand unsicher auf und kam näher. „Hast du schon mal vom Stamm der Salasser gehört?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Die Salasser lebten in den Alpen. Man musste gegen Mittag reisen, um sie zu treffen. Es war der größte Stamm der Alpen! Hast du schon mal einen Salasser getroffen?“ Der Junge schüttelte wieder den Kopf. „Das wirst du auch nicht mehr! Die Salasser haben jahrelang die Römer überfallen. Vor zehn Jahren sind die Römer mit einem großen Heer in die Alpen gezogen und haben die Salasser vernichtet. Wer von ihnen danach noch lebte, wurde in die Sklaverei verkauft. Jetzt gibt es ihn nicht mehr, den Stamm der Salasser, und niemand ist da, um ihre Taten zu besingen und an ihre Ahnen zu erinnern!“
Cingetorix und Boiorix traten vor Tiberius hin und legten ihm ihre Waffen zu Füßen. Sie schworen den dreifachen Eid, dass sie den Frieden halten und den Gesetzen der Römer folgen würden. Tiberius sah auf die beiden Häuptlinge und rief dann laut einen Namen: „Eonus!“
Ein dicklicher Mann aus seinem Stab kam angelaufen. Tiberius wandte sich auf Griechisch an Cingetorix: „Das ist mein Arzt. Wenn du möchtest, wird er sich deinen Arm ansehen!“
Cingetorix starrte Boiorix an, der ins Leere blickte, dann sah er zum Himmel und hielt dem Arzt seinen Arm hin.
Das Heer der Licaten löste sich auf und die Frauen und Kinder durften nach Hause zurückkehren. Die Häuptlinge blieben bei Tiberius und zogen mit dem römischen Heer weiter nach Norden. Nach einigen Tagesmärschen erreichten sie den Ort, wo sich die Licca mit der Vinda vereinigte.
Tiberius und Varus befanden, dass dieser Platz ausgezeichnet für ein dauerhaftes Lager geeignet war. Sofort begannen die Ingenieure, den Platz zu vermessen, und die Legionäre errichteten ein Lager, das groß genug für zwei Legionen war. Dann schickte Tiberius Boten zu seinem Bruder Drusus, der zwei Tagesmärsche entfernt bei den Trümmern des Ortes, der einmal Bratanium gewesen war, lagerte. Nachdem Drusus Bratanium geplündert und das Gebiet der Rucinaten und Cosuaneten verwüstet hatte, zog auch er zur Licca und schloss sich der Legion seines Bruders an.
„Nun, wie sehen die Zahlen aus?“, fragte Tiberius die beiden Primipili.
„Nachdem wir vier Kohorten zurückgelassen haben, hat die Gallica immer noch zweitausend kampffähige Legionäre!“, entgegnete deren Primipilus.
Canidius, der immer noch krank aussah, sah auf seine Schreibtafel und erklärte: „Die Augusta hat noch 2.600 kampffähige Legionäre hier und 1.200 in Damasia!“
Tiberius hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte in die Ferne.
„Verpflegung?“, fragte er knapp.
„Da wir den Licatiern ihr Getreide gelassen haben, wird bei uns die Verpflegung langsam knapp. Zwei, höchstens drei Wochen, dann müssen wir anfangen zu rationieren!“
Die beiden Lagerpräfekten tauschten einen kurzen Blick: „In Cambodunum müsste aber mittlerweile genug liegen! Die Quästoren in Basilia und Vindonissa waren angehalten, regelmäßig Nachschub über den Lacus Venetus nach Brigantium zu schicken. Wenn Tribun Lamia seiner Aufgabe gewachsen ist, wird er es nach Cambodunum gebracht haben, wo es auf uns wartet!“ „Wenn wir Schiffe hätten, könnten wir den Nachschub von Damasia über die Licca hierher bringen lassen“, sagte Quirinius bedauernd. „Aber so …“
Tiberius nickte zustimmend und wandte sich an seinen Stellvertreter: „Tribun Gallus. Du wirst mit der 1. und 3. Kohorte und den Belgen nach Cambodunum ziehen und unseren Nachschub holen!“, befahl er. „Die 3. Kohorte bleibt dann mit der 6. Kohorte dort, die 8. Kohorte geht nach Brigantium und löst dort die 7. Kohorte ab. Diese soll den nächsten Transport hierher bringen! Du hast nur zwei Wochen Zeit, beeile dich also!“ Gallus salutierte und verließ das Zelt. „Publius Quintilicius schickt einen Spähtrupp zum Danuvius“, fuhr Tiberius zu Varus gewandt fort. „Er soll das Gebiet die Licca entlang und dann weiter nach Osten aufklären. Dort oben liegt eine alte Keltenstadt, die angeblich verlassen ist!“