In den nächsten Wochen musste Lucius beim Wahlkampf helfen. Zuerst richtete Gaius einige Abendessen für befreundete und einflussreiche Familien aus, um auszuloten, mit welcher Unterstützung er rechnen konnte. Syros erwies sich als unschätzbare Hilfe, da seine Erzählungen von den Ereignissen im Osten den Gästen den Eindruck vermittelten, dass es sich lohnen würde, einen Justinii Marcellii zu unterstützen. Gnaeus Marcellus hatte die Gründung der colonia geleitet und war einer der reichsten und angesehensten Bürger Arausios, aber seine häufige Abwesenheit hatte verhindert, dass die Familie auch politisch an Bedeutung gewann. Gaius konnte sich schließlich der Unterstützung einiger Stadträte versichern, die ihm Männer aus ihrem Stab mit Erfahrung im Wahlkampf überließen.
Die Entscheidung, für welches Amt Gaius kandidieren würde, war nicht leichtgefallen. Die Justinii Marcellii hatten schon einigen Kandidaten ihre Unterstützung zugesagt, so dass Gaius jetzt nicht gegen sie antreten konnte. So blieben nur die ungeliebten Ämter der Kuratoren für die Straßen. Die Aufgabe der duoviri viarum war es, sich um den Zustand und die Sauberkeit der Straßen innerhalb der Stadt zu kümmern. Damit befanden sie sich zwischen Scyllia und Charibdis: Verrichteten sie das Amt anständig, machten sie sich bei den Nachbarn unbeliebt, weil sie Bußgelder verhängen mussten. Ließen sie die Zügel schleifen, bestand die Gefahr, von einem politischen Gegner wegen Vernachlässigung der Amtspflichten verklagt zu werden.
Die quatroviri viarum waren für die Straßen außerhalb der Stadt zuständig. Sie reisten das ganze Jahr in der Provinz umher. Sie mussten überprüfen, ob die Wege zwischen den Feldern frei blieben und ob die Hauptwege ordnungsgemäß bepflastert worden waren. Außerdem mussten sie Reparaturen veranlassen und diese manchmal sogar selbst bezahlen. Obwohl dieses Amt mit vielen Unbequemlichkeiten und Reisen verbunden war, hatte Gaius sich dafür entschieden.
Die Nachbarn pinselten Werbeparolen an die Wände und Gaius versicherte sich der Hilfe einiger Händlervereinigungen. „Wählt Gaius Marcellus zu einem der Quatroviri, wir, die Nachbarn, empfehlen dies.“ „Die Obsthändler bitten, Gaius Justinius Marcellus die Aufsicht über die Straßen zu geben. Er ist ein guter Mann.“ „Marcellus als Quatrovir, Quintus Annius empfiehlt dies!“
Diese und andere Sprüche tauchten an den Häuserwänden auf. Gaius selbst ging jeden Morgen in der toga candida zum Forum, um sich bei den Wählern bekannt zu machen. Jeden Abend beriet er sich mit seinen Freunden und Wahlhelfern und studierte außerdem die Gesetze und Verordnungen zum Thema Straßenwesen.
„Lucius, du musst morgen für mich zum Hof reiten. Sergius braucht mehr Geld für die Erntehelfer und möchte das mit mir besprechen“, sagte Gaius eines Morgens. „Ich habe im Moment keine Zeit, daher bitte ich dich darum.“
„Natürlich, das tue ich gerne!“, sagte Lucius überrascht.
„Ich werde dich begleiten, wenn du willst!“, bot Syros an, der gerade aus Lugdunum zurückgekehrt war.
„Gerne!“ Lucius war hocherfreut. Syros war ihm eine willkommene Reisebegleitung – endlich würde er ihn weiter über den Osten ausfragen können.
Als sie am nächsten Tag zu den Mietställen am Nordtor gingen, erzählte Lucius, dass das Forum der colonia am Fuße des Sandsteinhügels angelegt worden war. Dort hatte man das Baumaterial abgetragen, um die Tempel und Basiliken zu bauen. So war die Stadt vom Süden bis zum Fluss und darüber hinaus gewachsen.
Lucius steuerte direkt auf die Stallungen des Gaius Julius Catuvoix zu. Catuvoix war ein Voconter, der das Bürgerrecht erhalten hatte, als Augustus sich noch Gaius Julius Caesar nannte.
Lucius und Syros betraten den Hof. Der typische Geruch nach Mist, Stroh und Pferd lag in der Luft. Ein grobschlächtiger Gallier mistete gerade einen Stall aus. Als Lucius ihn ansprach und nach Catuvoix fragte, starrte er ihn nur blöde an. Lucius wiederholte die Frage in dem vocontischen Dialekt, den er von seiner Mutter gelernt hatte, und dann noch einmal in dem Dialekt der Allobroger, den er von seiner Kinderfrau kannte. Der Gallier zeigte keine Reaktion. Er starrte ihn nur mit offenem Mund an, so dass man seine Stummelzähne sehen konnte, spuckte aus und machte sich wieder an seine Arbeit.
Lucius kochte innerlich vor Wut. Wie konnte dieser Stallknecht es wagen, ihn so stehen zu lassen? Syros sah ihn fragend und zugleich erwartungsvoll an. Lucius wusste nicht, was er tun sollte. Wo war Catuvoix? Was sollte Syros bloß von ihm denken, wenn er sich so abservieren ließ? Er sprach den Knecht noch in einigen Mundarten an, aber der reagierte gar nicht mehr. Endlich kam Catuvoix aus einem der Gebäude. Er war römisch gekleidet und frisiert, aber unverkennbar ein Gallier. Prüfend wanderte sein Blick über den Hof und blieb an Lucius hängen. Catuvoix erkannte ihn sofort. Er sah den Ärger in Lucius’ Miene und reagierte prompt.
„Du blöder Trottel!“, brüllte er seinen Knecht in Vocontii an. „Kannst du mir nicht umgehend Bescheid sagen, wenn wichtige Gäste kommen, oder diese sofort zu mir schicken? Ich sollte dich auspeitschen lassen!“ Catuvoix schäumte regelrecht vor Wut. „Verzeiht, Lucius Justinius, dass du und dein Begleiter warten musstet, weil dieser Barbar keine Manieren hat. Womit kann ich euch dienlich sein?“
Lucius versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken und Haltung zu bewahren. „Mein Vetter Gaius Justinius und ich benötigen zwei Pferde für einige Tage!“, erklärte er von oben herab.
Catuvoix pfiff auf den Fingern und sofort eilte ein weiterer Gehilfe herbei. Catuvoix überschüttete ihn mit hektischen Anweisungen. Der Stallknecht rannte sogleich los, und kurz darauf standen zwei fertig gesattelte Pferde für Lucius und Syros bereit. Lucius war dankbar, dass Syros die peinliche Szene nicht weiter erwähnte, als sie durch das Nordtor zur Stadt hinaus ritten.
Sie nahmen die Via Agrippa nach Norden. Die Straße war belebt. Sie begegneten Kaufleuten, Jägern, Bauern und sogar einem berittenen Kurier. Alle Reisenden machten ihm Platz, sobald sie die Schärpe sahen, die ihn als Boten kennzeichnete. Er flog förmlich an ihnen vorbei und Lucius sah ihm nach. Ein guter Kurier schaffte an einem Tag 130 Meilen. Beim Gedanken daran schmerzte Lucius schon der Hintern.
Syros erzählte Lucius von seinen Reisen und vom Leben in Osten, so dass die Zeit schnell verging.
Am späten Nachmittag erreichten sie die Abzweigung zum Hof, und wie jedes Mal an dieser Stelle wurde Lucius warm ums Herz. Er lebte jetzt schon eine Reihe von Jahren in Arausio, aber seine Kindheit hatte er auf dem Hof verbracht. Immer, wenn er den Meilenstein an der Abzweigung sah, wusste er: Noch eine Stunde, und ich bin zu Hause.
„Wie weit noch?“, fragte Syros, als sie von der Straße auf den Feldweg abbogen.
„Etwa zehn Meilen!“
Zwischen den Feldern waren vereinzelt die villae rusticae zu sehen, die dazugehörigen Höfe und Güter. Als sie an einem großen Weingarten vorbeiritten, sagte Lucius stolz: „Dies gehört bereits unserer Familie!“ Endlich, nachdem sie in den Weg, der direkt zum Hof führte, abgebogen waren, konnte man die schmutzig grauen Steine der Umfassungsmauer erkennen. Sie ritten auf das Tor zu. Je näher sie kamen, umso mehr Einzelheiten konnten sie erkennen.
„So ein Bild muss Vergil vor Augen gehabt haben, als er das Landleben pries!“, rief Syros begeistert.
Lucius wies auf das Gebäude rechts vom Tor: „Das hier ist die Scheune und dahinter, das große Gebäude mit dem roten Dach, ist Werkstatt, Schmiede und Badehaus. Wir brauchen nur einen Ofen, um alle drei zu betreiben. Das links vom Tor ist der Stall für Ochsen und Pferde mit der Koppel. Dahinter liegt noch das Gebäude, in dem der Wein hergestellt wird. Das Wohnhaus ist weiter hinten in einem kleinen Park.“ Lucius war stolz, als er sah, wie beeindruckt Syros von dem Familienbesitz war.