„Du meinst, dass sie sich entblößen?“, fragte Mallius.
„Das, und dass sie ihre Kinder töten, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen. Nur ist mir Letzteres leider erst wieder eingefallen, nachdem sie es getan hatten. Sonst hätte ich die Männer warnen und darauf vorbereiten können.“
„Ja, das wäre hilfreich gewesen“, bemerkte Hilarius trocken. „Und wo liest man solche Sachen?“
„Oh, in den Berichten der Geschichtsschreiber, Polybios oder Hero-dot zum Beispiel, oder auch in den Sagen. Da werfen Feldherren schon mal Feldzeichen unter die Feinde, um die Truppen zum Vormarsch zu animieren.“
„Das sind aber nur Sagen, Marcellus!“, kam der Einwand. „Es ist mehr als waghalsig, eine Sage einfach nachzuspielen. Würdest du dir etwa auch wie Scaevola die Hand verbrennen?“
Lucius lächelte schief. „Nein, das wohl nicht. Aber nicht nur in den Sagen wird davon erzählt. Auch Caesar beschreibt bei der Schilderung seiner Landung in Britannien, wie die Legionäre angesichts der Feinde auf den Schiffen blieben und sich nicht an Land trauten. Daraufhin sprang einer der Adlerträger auf und schrie: ‚Springt, Kameraden, wenn ihr den Adler nicht dem Feind ausliefern wollt!’ Alle folgten ihm.“
„Springt, Kameraden!“, wiederholte Mallius und stutzte. „Du hast das Gleiche gerufen!“
„Natürlich!“ Lucius grinste jetzt. „Was Caesar geholfen hat, kann uns doch auch helfen, oder?“
„Was für Zeiten!“, knurrte Hilarius und hielt ihm den leeren Becher hin. „Und was für ein scheußliches Gesöff! Du hast doch mal eine Amphore Falerner vom Legaten geschenkt bekommen?“
Die Legion ist ein Dorf, dachte Lucius, aber woher, beim Bacchus, wusste Hilarius das?
„Einen Schlauch, und der ist bereits leer!“, log Lucius, ohne mit der Wimper zu zucken. Um sich hier die Erinnerung wegzutrinken, würde er nicht den guten Wein verschwenden.
Die Legionen marschierten zuerst nach Westen, wandten sich dann nach Süden und überquerten den Danuvius. Es war nun Ende August und die Sonne brannte heiß vom Himmel. Jetzt waren die Wälder eigentlich willkommene Schattenspender, doch die Römer fühlten sich in ihnen nach wie vor unwohl. Es gab hier zahlreiche Insekten, einige Legionäre hatten schon mit Zeckenbissen zu kämpfen gehabt. Offenbar konnte der Biss dieser kleinen Biester sogar tödlich sein. Lucius hatte es bei einem der Männer aus dem Tross gesehen: Das Insekt hatte sich in seinem Nacken festgebissen und seine Kameraden hatten es entfernt. Zuerst hatte der Biss noch ein wenig geblutet und war ein bisschen entzündet gewesen. Dann war die Entzündung abgeklungen und alles schien überstanden. Aber plötzlich hatte der Mann Fieber bekommen, war ins Delirium gefallen und schließlich gestorben. Seitdem waren die Wälder den Römern noch verhasster als sonst.
Sie erreichten Basilia, wo mittlerweile auch die Gallica und die Hispania eingetroffen waren.
In den vergangenen fünf Monaten hatten sie die Raeter und Vindelicer unterworfen und eine Schlacht gegen die Germanen gewonnen. Jetzt würden sie vor dem Winter noch eine Reihe Verwaltungsaufgaben durchführen, und in der Provinz musste ein wenig aufgeräumt werden. Es gab immer noch einige Widerstandsnester in den Bergen.
Doch zunächst wurde noch einmal gefeiert, eine Belohnung für die Leistung der Legionäre und ein guter Anlass, dem Wein kräftig zuzusprechen. Zu Ehren des Augustus fand an den Kalenden des September ein großes Fest statt.
Am Morgen danach erwachten die Legionen mit einem kollektiven Kater. Nur die nötigsten Wachen, die Strafdienst hatten, versahen ihren Dienst. Die anderen waren bis zum Mittag vom Dienst befreit. Für den Nachmittag wurde dann Zeugdienst angesetzt und die Soldaten brachten ihre Ausrüstung in Ordnung.
Lucius nahm sich die Post vor, die in Basilia gelagert worden war. Als er mit Mallius zusammen die Empfänger sortierte, hatte er plötzlich einen Kloß im Hals.
„Der hier ist für Tertinius!“, sagte er mit belegter Stimme. Das Bild des jungen Legionärs stand ihm deutlich vor Augen.
Mallius nickte nur und zeigte auf einen Stapel Briefe, die er bereits aussortiert hatte. Für ihn war das Aussortieren der Briefe eines Toten bereits nur noch Routine.
Auch für Lucius waren Briefe dabei. Er überflog die Absender: ein Brief von seinem Vater, einer von Gaius, einer von Marcus. Von seinen Freunden waren ebenfalls Briefe gekommen. Da gab es einiges zu lesen.
Er öffnete den von seinem Vater zuerst. Gnaeus Marcellus hatte nur wenige Zeilen geschrieben. Er hoffte, dass Lucius bei guter Gesundheit sei und die Strapazen seines ersten Feldzuges gut überstanden habe. „Ich habe schon gehört, dass du die Ausbildung gemeistert hast und ich habe sogar das eine oder andere von deinen Erlebnissen gehört.“ Du alter Schweinhund! Lucius wusste nicht, ob er belustigt oder verärgert sein sollte. Da hatte der Vater doch bestimmt einen seiner alten Kameraden auf ihn angesetzt! „Von dir selbst ist ja kein Lebenszeichen gekommen!“ Lucius zuckte schuldbewusst zusammen, er war so beschäftigt gewesen und so in seine eigenen Probleme vertieft, dass er an eine Nachricht an seine Familie nicht gedacht hatte. Er las weiter: „Was ich über dein Verhalten und deine Leistungen während des Feldzuges gehört habe, lässt darauf schließen, dass du unserer Familie keine Schande gemacht hast! Ich wünsche dir auch weiterhin Glück, Erfolg und Gesundheit. Vergiss nicht, die Götter zu ehren. Vale, Gnaeus Justinius Marcellus“.
Lucius brauchte einen Moment, um das Gelesene zu verarbeiten. „Was ich gehört habe.“ Diese Wendung benutzt Vater gleich mehrmals, dachte Lucius, und überflog noch einmal das Schreiben. Es war zwecklos, darüber zu sinnieren, wer es sein könnte. Jeder Veteran konnte seinen Vater kennen. Er las den Schluss noch einmal. Sollte das etwa ein Lob sein? War sein Vater etwa stolz auf ihn? Lucius reckte sich ein wenig und legte den Brief auf den Tisch.
Als Nächstes öffnete er Gaius’ Brief. Auch dieser war nur kurz. Seiner Familie ging es gut, der kleine Gnaeus war wohlauf. Denn während sich Lucius in der Weltgeschichte herumtrieb, hatte der kleine Gnaeus das Licht der Welt erblickt. Der große Gnaeus war mächtig stolz auf seinen ersten Enkel, auch wenn er das nicht zugab. Das Haus in Arausio sei angenehm ruhig, seit Lucius nicht mehr das Mobiliar zertrümmere. Aber er sei natürlich jederzeit willkommen. Glück, Gesundheit, reiche Beute und immer einen Schild zwischen sich und den Barbaren wünschte sein Bruder ihm. Sextus lasse schön grüßen.
Marcus begrüßte ihn ebenfalls freudig als Onkel. Er weilte mit seiner Frau noch immer in Lugdunum, da ihr die Reise zurück nach Rom zurzeit noch nicht zuzumuten war. Jetzt waren sie stolze Eltern einer kleinen Cornelia. Sie hatte als Säugling schon einen stolzen Gesichtsausdruck. Sie sei eine kleine Fürstin, eine Prinzessin. Wenn er es einrichten könne, solle er sie in Lugdunum besuchen, vielleicht zu den Saturnalien.
Was in einem Jahr doch alles passieren konnte! Seine beiden Brüder waren Väter geworden und er hatte nicht einmal gewusst, dass ihre Frauen schwanger gewesen waren. Oder Moment! Anfang des Jahres vor dem Abmarsch hatte ihn ein Brief von Gaius erreicht, der so etwas erwähnt hatte. Bis zu den Saturnalien dauerte es zwar noch eine Weile, aber das wäre in der Tat eine gute Gelegenheit, seine Familie zu besuchen. Er hatte sich über Urlaub noch gar keine Gedanken gemacht.
Seine Freunde versorgten ihn mit Stadtklatsch. Die Thermen seien komplett fertiggestellt. Thermen, dachte Lucius bei sich, seit über einem Jahr hatte er keine mehr aufgesucht. Die Stadt wuchs weiter. Furius, der alte Weinpanscher, war endlich verurteilt und weggejagt worden. Das Theater war aufgebaut worden und Titus war in Lugdunum gewesen und hatte Gladiatorenkämpfe besucht, die Augustus zu Ehren seines Vaters, des göttlichen Julius, gegeben hatte.