Den ganzen September und Oktober über war Lucius den Architekten und Ingenieuren zugeteilt. Das Wetter wurde schlechter und merklich kühler. Bald schon mussten auch die Vorbereitungen für den Winter getroffen werden. Es wurden Reparaturen an den Baracken durchgeführt und letzte Vorräte angelegt.
Noch einmal marschierten die Legionen aus Basilia zu der neuen colonia, als man zum Armilustrium die Waffen der Legionäre, die durch das Blut der Feinde verunreinigt worden waren, rituell reinigte. Alle waren in Hochstimmung. Sie hatten einen Feldzug abgeschlossen, vor kurzem war Zahltag gewesen und die Saturnalien standen bevor; der Drill würde im Winter eingeschränkt werden und sie würden endlich Urlaub bekommen. Herz, was willst du mehr!
Lucius aber stand der nächste Ärger ins Haus. Er musste sich mit einem neuen Optio auseinandersetzen, denn Drusillus war zum Centurio befördert worden. Leider hatte Lucius bei der Auswahl des neuen Optio kein Mitspracherecht gehabt, denn sonst hätte Celsonius diesen Posten nicht bekommen. Da hatte Valens seine Hand im Spiel, dessen war Lucius sicher. Wann würde dieser Bastard endlich aufhören, Lucius Steine in den Weg zu legen und ihn zu triezen?
Wenigstens durfte er die nächste Personalentscheidung treffen. Aus den Reihen seiner Legionäre sollte ein neuer Tesserarius ernannt werden. Celsonius und Mallius hatten ihm schon Voluminius als ihren Kandidaten genannt. Lucius war sich sicher, dass die beiden von diesem ein paar Sesterzen versprochen bekommen hatten, dafür, dass sie sich für ihn verwandten.
Lucius hatte aber schon längst seinen eigenen Kandidaten im Kopf. Ripanus war freudig überrascht, als er von seiner Ernennung erfuhr. Er hatte nicht gewagt, auf eine Beförderung zu hoffen. Als er zum ersten Mal die Parole ausgab, sah Lucius in gehobener Stimmung zu. Das Gefühl, einem der Seinigen die verdiente Beförderung ausgesprochen zu haben, war einmalig. Ja, es war ein geradezu berauschendes Machtgefühl.
„Wenn man unter dem Adler dient, muss man mit allem rechnen, Ripanus,“ hatte Lucius ihm schmunzelnd gesagt, als er Ripanus die Beförderung angetragen hatte. Das hatte er ja selbst dieses Jahr zur Genüge erfahren.
Lucius fand die Aussichten auf einen langen, kalten und einsamen Winter trübe, aber es gab einen kleinen Hoffnungsschimmer für ihn. Bei einem Händler hatte er einen glücklichen Fund gemacht.
Dabei hatte er zuerst die Waren nur gleichgültig gemustert. Dann war sein Blick auf einige Rollen gefallen. Bücher! Seit fast zwei Jahren hatte er kein Buch mehr gelesen. Seine Hand schoss vor und ergriff eine der Rollen. Er zog sie auseinander und warf einen Blick auf die Überschrift. Ab urbe condita liber XXI. Das 21. Buch der römischen Geschichte von Livius, stellte er begeistert fest. Er begann mühsam die ersten Zeilen zu entziffern.
„Einem Teil meines Werkes darf ich vorausschicken, was sehr viele Historiographen sonst am Beginn ihrer gesamten Abhandlung angekündigt haben: Ich werde über den denkwürdigsten aller Kriege, die jemals geführt wurden, schreiben.“
Das klang doch schon vielversprechend.
„Über den Krieg nämlich, den die Karthager unter ihrem Feldherrn Hannibal gegen das römische Volk geführt haben.“
HANNIBAL! Lucius hätte beinahe vor Entzücken aufgeschrien. Ausgerechnet die Bücher über den zweiten punischen Krieg waren ihm in die Hände gefallen. Schnell griff er nach den anderen Rollen. Liebesgedichte! Weg damit! Von der Bedeutung des Ackerbaus für den Senator, von Cato dem Zensor. Er stöhnte innerlich auf. Da! Ab urbe conidate liber XXIII! Schnell griff er zu.
Er las die erste Zeile. „Als Hannibal nach der Schlacht von Cannae das Lager eingenommen hatte …“ Nach der Schlacht von Cannae? Er musste unbedingt Buch 22 finden. Leider suchte er vergeblich. Leicht enttäuscht wandte er sich an den Händler, um die beiden Bücher zu bezahlen. Der hatte natürlich das große Interesse seines Kunden bemerkt. Schnell verdoppelte er insgeheim den Preis, den er ursprünglich hatte fordern wollen. Dann besah er sich seinen Kunden näher. Jung und literaturinteressiert, also musste er ein Tribun sein. Rasch verdoppelte er den Preis noch einmal.
Lucius blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „WIE viel“, fragte er verblüfft, „sollen die beiden Bücher kosten? Für den Preis kann ich ja eins der sybillischen Bücher kaufen!“
Der Händler tat empört. „Livius ist doch nicht irgendein Schriftsteller!“
Lucius war sich sicher, dass der Händler in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, wer Livius war. Und er hatte mit Sicherheit nicht damit gerechnet, diese Schriftenrollen ausgerechnet in einem Legionslager verkaufen zu können. Lucius kämpfte mit sich. Was der Händler forderte, war eine Unverschämtheit. Andererseits musste Lucius diese Bücher unbedingt haben. Sie würden ihn über den Winter retten. Hielt der alte Wucherer ihn am Ende für einen Tribun und ging davon aus, dass er sowieso zu viel Geld hatte?
Demonstrativ hob Lucius seine Vitis empor und klopfte damit auf die Handfläche der linken Hand. „Es tut mir leid!“, sagte er mit deutlichem Bedauern in der Stimme. „Aber so ergiebig war der Feldzug nicht, dass ich mir eine solch horrende Ausgabe leisten kann!“
Die Vitis eines Centurios in der Hand eines so jungen Mannes? Offensichtlich versuchte der Händler, diese beiden widersprüchlichen Fakten miteinander zu vereinbaren. Endlich rang er sich zu einem Entschluss durch. „Na gut!“, sagte er widerwillig. „Ich wäre bereit, eine kleine Summe nachzulassen. Sozusagen als Entgegenkommen für unsere tapferen Legionäre!“
Er nannte die Summe, die er nachlassen wollte, und Lucius überschlug schnell im Kopf, ob er sich den Betrag leisten konnte. Ihm war plötzlich eingefallen, dass er ja auch noch Kerzen brauchte, sonst würde aus dem Lesen nichts werden. Öl- oder Talglampen waren dafür ungeeignet, weil sie nicht hell genug waren.
Na gut, dachte er, lass uns feilschen. Er nannte nun seinerseits eine Summe und forderte noch eine Anzahl Kerzen als Dreingabe. Der Händler rang seine Hände und beschwor Lucius, ihn nicht in den Ruin zu treiben. Aber jeder Händler stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs, wenn man von ihm einen Preisnachlass forderte. Das gehörte zum Spiel, das hatte Gaius Lucius schon früh gelehrt. Schließlich einigte man sich, Lucius in der Gewissheit, immer noch zu viel bezahlt, aber den Winter gerettet zu haben.
So ausgestattet, hielt sich Lucius den Winter über die meiste Zeit in seiner Unterkunft auf und las Livius’ Aufzeichnungen zur römischen Geschichte. Nur an den Saturnalien mischte er sich unter die Kameraden. Danach kehrte er gleich wieder zu Livius und dem Gefecht am Ticinius zurück. Lucius verschlang die Berichte geradezu. Als das Jahr begann, hatte Hannibal gerade die Schlacht an der Trebia gewonnen und Flaminius war Konsul geworden.
Briefe von seinen Brüdern und von Gaius Syros trafen ein und erinnerten Lucius daran, dass er ein äußerst säumiger Briefschreiber war. Wie hatte er sich über seinen Vater geärgert, als dieser nicht geschrieben hatte – und jetzt fiel es ihm selbst schwer, zu Pergament und Feder zu greifen. Dabei mangelte es ihm nicht an Zeit. Es gab kaum Exerzierübungen und keinen Drill. Jupiter sei Dank, denn der Winter hier am Rhenus war lang, kalt und hart. Nur das allmorgendliche Schneeräumen bedeutete Arbeit für die Legionäre.
Marcus berichtete Klatschgeschichten aus Rom, über die er, obwohl er noch immer in Lugdunum weilte, gut Bescheid wusste:
Grüße an Lucius Justinius Marcellus, der als Centurio durch die Gegend stiefelt, von seinem Bruder Marcus Cornelius Plautus, der es sich in Lugdunum gut gehen lässt!