Sie erreichten den Lift, ehe sie den Gedanken zu Ende verfolgen konnte, und Stone drückte den Knopf zur 19. Etage, der Kommandoebene. Die Türen glitten lautlos zu, und auch die Fahrt verlief diesmal wie gewohnt - sehr schnell und fast unmerklich, ohne die allerkleinste Erschütterung. Sie überlegte, ob sie Stone fragen sollte, was mit den Leuten unten in der Halle los war, tat es aber dann nicht. Wahrscheinlich war gar nichts mit ihnen los. Sie hatten Angst, das war alles. Und verdammt noch mal, sie hatten allen Grund dazu.
6. Kapitel - Vergangenheit
29. November 1998
Der Abend, an dem die Invasion wirklich begann, unterschied sich kaum von denen davor: Die Welt befand sich seit drei Monaten in einer Art Schockzustand, und daran hatte sich nichts geändert, seit die Nachricht vom Verschwinden der Wissenschaftler und Soldaten aus der Nähe des Sternenschiffes an die Öffentlichkeit gedrungen war. Becker und seine Leute hatten alles versucht, aber natürlich ließ es sich nicht geheim halten. Und natürlich geschah genau das, was Tausende von berufsmäßigen Schwarzsehern prophezeit hatten: Die Welt stürzte ins Chaos. Aber dies war Charitys ganz persönliche Geschichte, und sie gehörte zu den wenigen - vielleicht Glücklichen -, die sehr wenig von all den entsetzlichen Begleiterscheinungen dieser noch gar nicht stattgefundenen Invasion mitbekamen, ganz einfach, weil sie viel zu tief in der Geschichte drinsteckte, viel zu sehr beschäftigt war, um Zeit zu einem großen Überblick zu finden.
Natürlich war sie informiert: An tausend Orten auf der Welt brach Panik aus, es entstanden Sekten, Kriege flammten auf oder erloschen jäh, die Selbstmordrate stieg um etliche tausend Prozent; und selbst wenn das Schiff in diesem Moment abhob und wieder im Weltraum verschwände, wäre der angerichtete Schaden mit einem direkten Angriff durchaus zu vergleichen.
Aber die Fremden würden nicht gehen. Irgendwie wusste Charity es. Sie hatte es gespürt, schon im aller ersten Moment, als sie dort oben im Inneren dieses riesigen leeren Schiffes stand und den titanischen Block sah, und Soerensen hatte es gespürt, und alle anderen hatten es in ihren Blicken gelesen. Was immer sie vorhatten, es hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
Sie stand auf, schaltete den Fernseher ab, der wieder einmal eine Satellitenaufnahme des Schiffes zeigte - das Bild hatte sich in den letzten zwölf Wochen nicht verändert -, und trat auf den Balkon hinaus. Die Stadt lag still und fast dunkel unter ihr, und es war bereits empfindlich kalt, vor allem hier oben, fünfzehn Stockwerke über der Straße. New York schien ausgestorben zu sein. Nur wenige Autos krochen unter ihr über den Asphalt, die Leuchtreklamen und die Nachtbeleuchtungen der Bürohochhäuser waren abgeschaltet...
Die Notstandsgesetze galten noch immer, und erstaunlicherweise wurden sie auch eingehalten.
Charity fragte sich, wie lange das Leben in dieser Zehn-Millionen-Stadt noch so weiterlaufen konnte, ehe alles zusammenbrach. Wenn dieser Belagerungszustand, in den sie sich freiwillig begeben hatte, noch lange anhielt, brauchten die Außerirdischen gar nicht mehr zu kommen.
Sie seufzte, leerte ihren Martini - es war der dritte an diesem Abend, und somit der letzte, den sie sich selbst gestattete - und sah auf die Uhr. Es war nach zehn.
Mike war vor einer halben Stunde hinuntergegangen, um irgendwo ein paar Hamburger aufzutreiben, aber er war längst überfällig. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die Stadt war nicht mehr sicher. Jeder dritte Wagen, der noch auf der Straße war, trug das fleckige Grün der Nationalgarde.
Sie spielte einen Moment lang ganz ernsthaft mit dem Gedanken, ihr Martiniglas am ausgestreckten Arm über die Balkonbrüstung zu halten und dann in die Tiefe fallen zu lassen, und tat es dann doch nicht. Ihr Blick wanderte nach oben, suchte den Sternenhimmel ab.
Es war kalt, aber wie viele kalte Novembernächte war auch diese ganz besonders klar. Über ihr flimmerten Tausende von Sternen.
Alles sah so friedlich aus. So verdammt friedlich, als herrsche dort oben nichts als die große Leere, als gäbe es dort nichts, was eines Tages hierher kommen und ...
Ja, und was? dachte sie. Bereiteten sie wirklich einen Angriff vor? Und wenn ja, warum? So viele Fragen, auf die sie vermutlich niemals eine Antwort finden würden.
Fröstelnd drehte sie sich um und ging in die Wohnung zurück.
Sie schloss die Balkontür nicht, obwohl die Novemberkälte dadurch weiter ins Zimmer strömte.
Immer öfter in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie in einem geschlossenen Raum war.
Sie ging zum Regal, nahm sich ein Buch und versuchte zu lesen, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen. Nach einer Weile merkte sie, dass sie seit fünf Minuten die gleiche Seite anstarrte, und legte es wieder aus der Hand. Verdammt, auch sie war nur ein Mensch, und auch sie hatte ein Recht, Angst zu haben.
Vielleicht sogar ein bisschen mehr als der Rest der Menschheit, ganz einfach, weil sie ein bisschen mehr wusste als die allermeisten anderen. So zum Beispiel, dass keiner der Männer, die sie und die Russen in den vergangenen drei Monaten zum Nordpol geschickt hatten, zurückgekommen war. Oder zum Beispiel, dass ein paar von Beckers überschlauen Mitarbeitern in gerade diesem Moment dabei waren, eine Wasserstoffbombe mit einem primitiven Aufschlagzünder zusammenbastelten, die sie im allerschlimmsten Fall aus dem Orbit heraus auf die Sternenscheibe werfen wollten.
Charity bezweifelte, dass dieser Plan auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte. Was immer diese Außerirdischen waren, die da am Nordpol hockten und einen ganzen Planeten nur durch ihre bloße Anwesenheit in Lähmung versetzten - dumm waren sie gewiss nicht.
Sie warf das Buch achtlos in eine Ecke, stand wieder auf und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Untätigkeit, zu der sie seit zwei Tagen verdammt war, machte sie rasend. Nach drei Monaten Dauerstress hatte sie sich nach ein paar Tagen Ruhe gesehnt, aber es zeigte sich, dass diese Ruhe keine Erholung, sondern der pure Nervenkrieg war. Sie kam sich vor wie jemand, der auf dem elektrischen Stuhl saß und darauf wartete, dass der Knopf gedrückt wurde. Seit zwölf Wochen. Außerdem hatte sie Hunger.
Wo blieb Mike mit diesen verdammten Hamburgern?
Sie musste sich noch geschlagene zehn Minuten gedulden, bis sie die Aufzugtür hörte und dann Mikes schnelle - beunruhigend schnelle, dachte sie - Schritte. Sie war bei der Tür, eine Sekunde, bevor er den Klingelknopf berührte. Und sie sah sofort, dass etwas passiert war. Er war blass. Sein Atem ging schnell, als wäre er die fünfzehn Stockwerke hinaufgerannt, statt mit dem Aufzug zu fahren.
»Was ist passiert?« fragte sie.
Mike antwortete nicht auf ihre Frage, sondern drängte sich an ihr vorbei und lief ins Wohnzimmer. Hastig schaltete er den Fernseher ein und gestikulierte ihr, zu ihm zu kommen.
»Verdammt, was ist los?« fragte Charity noch einmal.
»Etwas tut sich beim Sternenschiff«, fiel ihr Mike ins Wort. »Zum Teufel, wieso hast du das Ding nicht angelassen, wie ich es gesagt habe?«
Charity verzichtete auf eine Antwort, zumal in diesem Moment der Fernsehschirm aufleuchtete und das vertraute Bild des Sternenschiffes zeigte, übertragen von einem Satelliten, der in dreihundertfünfzig Meilen Höhe über dem Nordpol geparkt war.
Das hieß - es war nicht ganz das vertraute Bild. Es hatte sich verändert, aber es dauerte einen Moment, bis Charity auffiel, was es war. Dann erschrak sie.
Etwas kam aus dem Schiff heraus; genauer gesagt, fünfhundertundzwölf unbekannte Objekte, denn genau soviel Löcher waren in die Oberseite der riesigen Stahlscheibe gestanzt. Und in jedem dieser Löcher war jetzt eine silberne, kreisrunde Scheibe erschienen. Wenn die Löcher - wie Charity wusste - einen Durchmesser von fünf Metern hatten, mussten diese Flugobjekte etwa drei Meter messen. Ganz langsam stiegen sie höher, Millimeter für Millimeter, wie es durch die verkleinerte Abbildung aussah, in Wirklichkeit aber mit ganz erstaunlicher Geschwindigkeit. Charity konnte weder Düsenflammen noch irgendeine andere Art von Antrieb erkennen. Die Scheiben glitten einfach in die Höhe, als existiere so etwas wie Schwerkraft für sie nicht. So viel zum Thema primitive Technik, dachte sie düster.