Er sah reichlich albern aus, aber niemand lachte.
Niles begrüßte sie knapp und wandte sich mit einem fragenden Blick an Mike.
»Was ist passiert?«
»Erklär es ihm«, sagte Charity leise. »Aber nicht hier.« Sie deutete auf den Operator-Raum und sah zu, wie Mike mit Niles in dem winzigen Verschlag verschwand und die Tür hinter sich zuzog.
Sehr schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht die einzige war, die den beiden nachblickte, und dass wahrlich nicht viel Phantasie dazu gehörte, zu erraten, was die beiden Space-Force-Männer so Geheimnisvolles zu besprechen hatten.
Wie lange würden sie es noch geheim halten können, und vor allem - wie lange würde sie es wollen? Verdammt, all diese Männer hier hatten ein Recht, zu erfahren, dass sie nur noch neunzig Minuten zu leben hatten.
Die Zeit verstrich träge. Mike und Niles blieben fast zehn Minuten fort, und Charity konnte regelrecht spüren, wie die Nervosität im Tower stieg. Eine unangenehme Anspannung begann sich in dem großen, rundum verglasten Raum breit zumachen, die sie wie die Berührung eines elektrischen Feldes auf der Haut fühlte.
Niles Gesicht war starr, als er zurückkam, aber er schien dasselbe zu empfinden wie sie - auch in seinem Blick war keine wirkliche Angst, sondern nur eine sonderbare Mischung aus Betroffenheit und Leere. Sie erinnerte sich, dass er als einziger von ihnen verheiratet war und ein Kind hatte. Seine Familie lebte in New York.
Sie sah auf die Uhr. Zwanzig der neunzig Minuten, von denen Becker gesprochen hatte, waren vorbei. Und sie sehnte sich fast danach, dass auch der Rest verstrich. Schlimmer als alles, was passieren konnte, war das Warten.
»Wie viel Zeit haben wir noch?« fragte eine Stimme hinter ihr.
Charity sah auf und erkannte Hardwells Gesicht als verzerrte Spiegelung in der Scheibe vor sich. Sie lächelte müde.
»Ich bin kein besonders guter Schauspieler, wie?« sagte sie. Erst danach drehte sie sich um und sah Hardwell direkt an, statt mit seinem Spiegelbild zu sprechen.
»Wer ist das schon, in einer Situation wie dieser?« erwiderte Hardwell. »Wie lange?«
Charity zögerte. »Siebzig Minuten«, sagte sie dann. Verdammt, warum nicht? Er wusste es ohnehin. Jeder hier wusste es.
»Mindestens«, fügte sie hinzu.
»Siebzig Minuten«, wiederholte Hardwell. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Schließlich deutete er mit der Hand nach unten, auf das Flugfeld.
»Zeit genug. Wenn... wenn Sie wollen, lasse ich Sie rausfliegen, Captain«, sagte er stockend.
Charity schwieg sehr lange. Hardwells Reaktion verwirrte sie. Er tat ihr sehr leid. »Das werden wir sowieso, General«, sagte sie schließlich. »Unsere Befehle lauten, von hier zu verschwinden, sobald die Crew komplett ist. Ich weiß allerdings nicht«, fügte sie hinzu, »ob es noch irgend etwas gibt, wohin es sich zu fliegen lohnt.« Ein paar bleiche Gesichter in ihrer Nähe blickten auf, und Charity begriff plötzlich, dass sie laut genug gesprochen hatte, um die Männer jedes Wort verstehen zu lassen. Aber die Reaktion, auf die sie wartete, kam nicht. Die Männer starrten sie nur an.
Plötzlich hatte sie einen geradezu irrwitzigen Einfall. »Wir haben noch Platz, General. Auf einen Passagier mehr oder weniger kommt es nicht an.« Mike fuhr sichtlich erschrocken zusammen, und auch Niles blickte sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. Hardwell lächelte nur.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier. Sie haben recht, Captain - wenn es ... wirklich passiert, dann gibt es nichts mehr, wohin es sich zu fliehen lohnt. Außerdem glaube ich nicht ...«
Charity erfuhr nie, was General Hardwell nicht glaubte. Ebenso wenig, wie irgend jemand je erfuhr, wieso sich Beckers Computer so drastisch verrechnet hatten.
Aber sie hatten es. Die siebzig Minuten, die sie angeblich noch hatten, schrumpften jäh zu einer halben Sekunde zusammen, der Zeit, die die fünfhundertelf galaktischen Bomben reglos verharrten, nachdem sie ihre Position fünfundsiebzig Meilen über der Erdoberfläche eingenommen hatten. Sie bildeten jetzt ein regelmäßiges Muster, mit einer einzigen Ausnahme mathematisch perfekt über den gesamten Globus verteilt.
Aber dieses geometrische Netz aus fünfhundertundelf drei Meter durchmessenden, fliegenden Bomben existierte in dieser Form nur eine halbe Sekunde lang.
Dann explodierte es.
7. Kapitel - Gegenwart
12. Dezember 1998
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war es wie ein Schritt in eine andere Welt, als sich die Lifttüren vor ihr und Stone öffneten.
Nur dass es diesmal eine Welt war, die ihr nicht behagte und ihr niemals behagt hatte; die summende, leise hektische Welt einer militärischen Kampfstation, die sich in höchster Alarmbereitschaft befand. Und das, obwohl es ja eigentlich ihre Welt war. Aber es gab einen Unterschied - sie hatte niemals zu den Knopfdrückern und Computer-Strategen gehört, und sie hatte auch niemals einen besonderen Hehl daraus gemacht, dass sie sie im Grunde verachtete, obgleich sie natürlich wusste, dass sie nötig waren.
Charity war zu einer Zeit in die Space Force eingetreten, in der die Möglichkeit eines Krieges längst in die Größenordnung hypothetischer Hochrechnungen geraten war; mit einer Wahrscheinlichkeit sehr weit rechts hinter dem Komma.
Und sie hatte es auch nicht getan, weil sie Spaß an Kriegsspielen hatte, sondern weil eine militärische Laufbahn ihr so etwas wie einen Hauch von Abenteuer versprochen hatte, auch wenn dieses Abenteuer zu neunundneunzig Prozent aus Drill und Disziplin und nicht zuletzt Langeweile bestand. Trotzdem entschädigte sie der kleine verbliebene Rest für vieles andere. Charity war - ihrer eigenen Meinung nach - um mehrere hundert Jahre zu spät geboren worden.
Sie ertrug es nicht, in einer Welt zu leben, in der das aufregenste Erlebnis eine Fahrt mit achtzig Meilen in der Stunde über den Highway war, und sie hatte sich niemals für Senso-Spiele oder andere elektronische Ersatzbefriedigungen begeistern können.
Deshalb trug sie seit elf Jahren die schwarzgrüne Uniform der US-Space Force, und wahrscheinlich lebte sie auch deshalb noch.
Ohne ihre Spezialausbildung hätte sie den Weg hierher niemals geschafft. Wahrscheinlich wäre sie nicht einmal aus New York herausgekommen.
Charity wartete, bis Stone in den Lift getreten war und die Türen sich geschlossen hatten, dann trat sie mit einem Schritt über die erste der beiden feuerroten Linien, die einen weitgeschwungenen, doppelten Halbkreis vor dem Aufzug bildeten, schloss für einen Moment die Augen und betete, dass die Class-A-Codierung in ihrer Hundemarke den Weg von New York hierher ebenso unbeschadet überstanden hatte wie sie. Aber allein die Tatsache, dass sie diesen Gedanken überhaupt denken konnte, bewies schon, dass es so war - wäre sie mit einer beschädigten oder falsch klassifizierten ID-Marke über die erste dieser beiden harmlosen Linien getreten, hätte sie jetzt schon herausgefunden, wie sich ein Hähnchen in einem Mikrowellenherd fühlte.
Trotzdem wartete sie die vorgeschriebenen zehn Sekunden, bis das rote Licht vor ihr auf Grün wechselte, ehe sie es wieder wagte, zu atmen und schließlich weiterzugehen. Die beiden Wachsoldaten, die mit lässig geschulterten Maschinenpistolen jenseits der zweiten roten Linie standen, nickten ihr freundlich zu.
Einer stieß einen leisen Pfiff aus, als Charity an ihm vorüberging, und grinste.
Charity erwiderte sein Lächeln, öffnete die durchsichtige Kunststofftür am anderen Ende des Raumes und trat ins Allerheiligste der Station.
Es war das sechste Mal, dass sie hier war, und das sechste Mal, dass der Anblick sie tief genug beeindruckte, um sie einen Moment verharren zu lassen.
Die Tür führte auf eine schmale, um den ganzen gewaltigen Raum herumlaufende Empore hinaus. Unter ihr lag ein riesiger Saal, kreisrund und in der Mitte leicht ansteigend, so dass der Sessel des Kommandanten samt seiner halbrunden Computerkonsole den Raum um Mannshöhe überragte. Zahllose Computertische, auf denen Hunderte von kleinen und großen Monitoraugen flimmerten, bildeten ein scheinbares Durcheinander, in dem nur das Auge eines Kundigen eine komplizierte, sehr klug durchdachte Ordnung ausmachen konnte. Fast die gesamte gegenüberliegende Wand wurde von einem gigantischen Bildschirm eingenommen, der im Moment die farbige Holografie einer überdimensionalen Weltkarte zeigte. Zwischen all diesen Computern und Schalttafeln und Monitoren wirkte das halbe Hundert blauuniformierter Stabssoldaten beinahe verloren.