Der NEMP hatte den Menschenstrom, der aus der City hierher unterwegs war, sicher ein wenig aufgehalten, aber sie würden kommen, jetzt, wo sie glauben mussten, noch einmal eine kurze Gnadenfrist bekommen zu haben, und nur die allerwenigsten von ihnen würden begreifen, dass all diese Flugzeuge und Hubschrauber auf dem Landefeld nie wieder aufsteigen würden.
»Wir sollten Hardwell warnen«, sagte Mike leise.
»Glaubst du, er weiß nicht, was passieren wird?« Charity schnaubte. »Der Mann ist kein Idiot.« Sie drehte sich um, sah aber nicht Hardwell an, sondern blickte an ihm vorbei auf den Flughafen hinaus, fast, als könne sie die gewaltige Menschenmenge bereits sehen, die irgendwann in einer oder zwei Stunden dort auftauchen würde, ein tobender Mob, der wahnsinnig vor Angst war und einfach nur fliehen wollte. Sie musste an Landers und Terhoven denken, der Bellingers Stelle in ihrer Crew eingenommen hatte. Sie war sehr sicher, dass die beiden tot waren. Ihre Maschine musste im gleichen Augenblick vom Himmel gestürzt sein wie alle anderen Fluggeräte.
Und wenn sie noch lebten - nun, dann waren sie Hunderte von Meilen entfernt. Keine Chance, hierher zu gelangen, selbst wenn sie es wollten. Die Welt war wieder größer geworden, in einer einzigen Sekunde. Sehr viel größer. Nein - es machte keinen besonderen Sinn mehr, auf sie zu warten.
»Gehen wir«, sagte sie.
Hardwell machte nicht einmal den Versuch, sie aufzuhalten.
Charity hatte sogar das Gefühl, dass er aus irgendeinem Grunde froh war, als sie zu ihm ging und ihm erklärte, sie, Mike und Niles wollten versuchen, in die Stadt zurückzugelangen.
Aber er lehnte es auch ab, sie zu begleiten, oder auch nur einem seiner Männer die Erlaubnis dazu zu geben. Immerhin bestand er darauf, sie von einem halben Dutzend seiner Männer bis zum Highway eskortieren zu lassen. Außerdem befahl er ihnen ihre Waffen mitzunehmen.
Eine Viertelstunde später verließen sie den Flughafen und wandten sich nach Osten. Sie sahen Hardwell niemals wieder.
Die Welt war im wortwörtlichen Sinne größer geworden - aus dem kaum fünf Minuten dauernden Flug nach La Guardia war ein fast achtstündiger Fußmarsch geworden, und Charity war längst mit ihren Kräften am Ende, lange bevor sie die Brücke erreicht hatten und die Wolkenkratzer Manhattans vor ihnen lagen.
Sie waren dem Highway gefolgt, was vielleicht nicht der kürzeste, auf jeden Fall aber der sicherste Weg war. Überall auf der Straße sahen sie liegengebliebene Autos und Menschen, die nicht wussten, wohin sie eigentlich fliehen sollten.
Erstaunlicherweise war es nicht zu einer allgemeinen Panik gekommen. An ein paar Stellen waren Brände ausgebrochen, und zwei- oder dreimal hatten sie Schüsse gehört. Die Stadt New York schien noch von einer tiefen Lähmung befallen zu sein. Sehr viele Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen - es mussten Tausende sein, die ihnen im Laufe der Nacht entgegengekommen waren -, aber diese Massenflucht war nur eine Art hoffnungsloses Aufbäumen gegen das Schicksal. Der Atomschlag der Fremden hatte die Welt nicht vernichtet, er hatte sie paralysiert. Vielleicht für immer.
Es wurde hell, als sie sich der City näherten. Sie hatten den Highway schließlich doch verlassen, einfach um den Weg abzukürzen. Zwei der Soldaten, die Hardwell ihnen mitgegeben hatten, waren noch bei ihnen; sie hatten sich schlichtweg geweigert, zum Flughafen zurückzugehen, und weder Charity noch Mike oder Niles hatten irgendwelche Einwände gehabt, sie mitzunehmen. Und niemand konnte es ihnen verübeln, dass sie es vorzogen, am Leben zu bleiben.
Charity war müde. Ihr Rücken schmerzte vom langen ungewohnten Laufen, und das Gewehr über ihrer linken Schulter schien eine Tonne zu wiegen. Sie hatten die Waffen nicht gebraucht, aber ihr Gewicht hatte ihr zumindest ein trügerisches Gefühl von Sicherheit gegeben.
Sie blieb stehen, rieb fröstelnd die Hände aneinander und blies hinein, ohne das betäubende Kribbeln aus ihren Fingern vertreiben zu können. Die Kälte war grausam. Im Jahrhundert der Zentralheizungen und Klimaanlagen vergaß man manchmal, dass der November schon fast zum Winter gehörte, aber die vergangenen Stunden hatten ihnen diese Tatsache sehr nachhaltig ins Gedächtnis zurückgerufen.
Auch die Dunkelheit hatte ihr Fortkommen erschwert. Sie hatte vorher nicht gewusst, wie dunkel eine Nacht in einer Stadt sein konnte, in der sämtliche Lichter ausgefallen waren.
Jetzt begann es zu dämmern. Der Himmel im Osten färbte sich grau, und das Licht verschaffte ihr wenigstens die Illusion, dass die grausame Kälte ein wenig nachließ. Die Skyline Manhattans tauchte allmählich aus der Nacht auf, wie eine titanische Riesenhand mit zu vielen und zu eckigen Fingern, die irgendwie anklagend gegen den Himmel ausgestreckt zu sein schienen. Sie wirkten abgestorben, selbst jetzt noch, als sich das erste Licht auf den gläsernen Fassaden der Hausgiganten brach und diese entsetzliche Finsternis endgültig zu vertreiben begann.
So tot wie...
Ja - wie diese ganze Gegend, dachte Charity.
Erst jetzt fiel ihr die Totenstille auf. Keine Menschen mehr, keine Geräusche.
»Was ist los?« Mike sah sie fragend an. Charity zuckte mit den Achseln und warf ihm einen zugleich hilflosen wie warnenden Blick zu. Niles und die beiden Soldaten waren ebenfalls stehen geblieben.
Einer der Männer nahm seine M16 von der Schulter und entsicherte sie. Das metallische helle Klicken hallte unheimlich verzerrt von den Wänden der Straßenschlucht wider.
»Nichts«, antwortete Charity mit einiger Verspätung auf Mikes Frage. »Aber es ist zu still.«
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte der Soldat, der sein Gewehr entsichert hatte.
Charity nickte. Es überraschte sie nicht, nicht allein mit diesem mulmigen Gefühl zu sein; und sie war jetzt sehr sicher, dass es keine Einbildung war. Sie hatte oben im Sternenschiff, zusammen mit Soerensen ein ähnliches Gefühl gehabt.
Auch der zweite Soldat nahm jetzt seine Waffe von der Schulter, und einen Augenblick später folgten Niles, Mike und Charity seinem Beispiel. Sehr vorsichtig gingen sie weiter. Die Straße erweiterte sich vor ihnen zu einem ovalen, langgestreckten Platz. Alles, was weiter als zwanzig oder dreißig Schritte entfernt war, lag noch in Dunkelheit getaucht. Wieder, wenn auch diesmal nur für Sekunden, empfand Charity dieses sonderbare Gefühl. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse, und sie sah, was sie bisher nur gespürt hatte.
Sie waren da.
Für drei, vier, fünf endlose Sekunden war dieser Gedanke alles, was sie denken konnte; eine bloße Feststellung, von einem lähmenden Schrecken begleitet: Sie waren da.
Es waren drei - zwei der gigantischen, käferartigen Kreaturen, die sie in der Videoaufzeichnung gesehen hatte, und noch ein drittes, irgendwie unförmiges Ungeheuer, sehr viel größer als die Käfer, das sich aber nicht weit genug aus dem Schutz der Dunkelheit hervorwagte, als dass Charity es genau erkennen konnte.
Sie war auch nicht sehr versessen darauf. Die angedeutete Bewegung und die schattenhaften, kantigen Umrisse, die sie sah, waren mehr als genug für ihren Geschmack. Die Tore der Hölle hatten sich geöffnet und spien ihre Ungeheuer aus.
»Jesus!« flüsterte Niles neben ihr. »Was in Gottes Namen ist das?«
Charity warf ihm einen raschen, mahnenden Blick zu, gleichzeitig wich sie ein paar Schritte in die Straße zurück und presste sich enger gegen die Wand. Sie betete, dass keines der Insektenmonster zufällig in ihre Richtung geblickt hatten.
Aus den Augenwinkeln sah sie eine weitere Bewegung in den Schatten auf der anderen Seite des Platzes: eine kleinere, schlanke Gestalt mit zu vielen Armen und einem Gesicht wie aus gehämmertem schwarzem Stahl trat neben einen der elefantengroßen Käfer und begann sich an ihm zu schaffen zu machen. Plötzlich hatte sie Angst. Ganz entsetzliche Angst.
Trotzdem funktionierte ein Teil ihres Verstandes noch mit der gewohnten Präzision, jener Teil, den sie in langen Jahren erbarmungslosen Trainings ausgebildet hatte und der ihr jetzt wie ein gefühlloser Computer erklärte, dass sie sich nicht nur in akuter Lebensgefahr befanden, sondern vielleicht auch eine einmalige Chance hatten. Wenn es ihnen gelang, diese drei Monster dort drüben auszuschalten; vielleicht sogar ihren Reiter lebend in die Hände zu bekommen...