Stone lächelte. »Was tun Sie hier, Captain?« sagte er. »Soweit ich weiß, ist das Betreten dieser Räume streng verboten - selbst für Leute mit einem Class-A Ausweis.«
»Und wie kommen Sie dann hierher?«
»Oh, ich bin so eine Art Mädchen für alles, wissen Sie?« erwiderte Stone lächelnd. »Das bringt eine Menge Arbeit mit sich, aber auch das eine oder andere Privileg. Wie zum Beispiel völlige Bewegungsfreiheit. Becker sucht Sie.«
Den Nachsatz, der die eigentliche Antwort auf ihre Frage war, hätte sie um ein Haar überhört. »Wieso?«
Stone zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich soll Sie zu ihm bringen, das ist alles.« Er machte eine einladende Geste, aber er trat nicht zur Seite, als Charity auf ihn zuging.
»Gestatten Sie mir eine persönliche Frage, Captain?«
Charity sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. Sie war nicht sicher, ob sie irgendeinen persönlichen Kontakt mit Stone wünschte. Nicht jetzt, und vielleicht überhaupt nie wieder.
Freundschaften hatten so wenig Sinn, wenn der Weltuntergang vor der Tür stand. Trotzdem nickte sie.
»Sie... Sie waren doch draußen«, begann Stone. Charity nickte abermals. Die Frage war reichlich überflüssig. »Ich wollte Sie schon vorhin fragen, aber wir... nun ja, der Augenblick erschien mir nicht besonders günstig.«
Er wich ihrem Blick aus. Charity fühlte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen.
»Wir erfahren hier unten nicht viel«, fuhr er fort. »Becker hat so etwas wie eine Nachrichtensperre verhängt, aber ich glaube, in Wirklichkeit weiß er selbst nichts Genaues. Sie... Sie haben von Bomben gesprochen.«
Charity schwieg. Sie war allein mit Becker in dem kleinen Büro gewesen, aber auch die Wände von SS Nulleins schienen Ohren zu haben. Und schlechte Nachrichten sprachen sich schnell herum, daran hatte nicht einmal die Invasion der Außerirdischen etwas geändert.
»Ich stamme aus Missouri, wissen Sie«, sagte Stone. »Meine Familie lebt dort, und ich ...«
»Sie wollen wissen, ob auch dort Bomben gefallen sind«, sagte Charity, als Stone endgültig nicht weitersprach.
Er nickte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Niemand weiß das, Lieutenant. Ich weiß nicht einmal, wer diese verdammten Bomben geworfen hat. Ich habe ein paar Explosionen gesehen, aber sie waren sehr weit weg.« Und sie würde es ihm nicht einmal sagen, wenn sie es genau gewusst hätte.
Verdammt, sie alle hatten wahrscheinlich nur noch ein paar Tage zu leben - wer war sie, ihm auch noch die letzte Hoffnung zu nehmen?
In Wahrheit hatte sie eine ganze Menge mehr gesehen als nur ein paar Bomben: Die Welt im Norden war in einer Orgie aus Feuer und unerträglich grellem Licht untergegangen.
Selbst sie hatte es kaum überlebt, obwohl sie mehr als hundert Meilen entfernt gewesen war.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie noch einmal.
»Sie sagen das nicht nur, um mich zu trösten?« fragte Stone.
Charity lachte, und sie tat es ganz bewusst hart und abfällig.
»Wofür halten Sie mich, Lieutenant?« fragte sie. »Für Ihren Beichtvater? Ich weiß nicht, was dort los ist, zum Teufel Ich habe das halbe Land durchquert, aber ich weiß so wenig wie sie. Es gibt keine Sechs-Uhr-Nachrichten mehr, wissen Sie? Nicht einmal ein verdammtes Telefon. Vielleicht haben sie den halben Planeten zusammengebombt.«
Ihr bewusst verletzender Ton ließ Stone zusammenzucken. Sein Blick flackerte noch immer, aber er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Der Zusammenbruch, den sie halbwegs erwartet hatte, kam nicht. Nach einer Weile trat er von der Tür zurück.
Aber kurz, bevor sie den Raum verließ, sah sie Stone noch einmal an, und sie bemerkte, dass sein Blick starr auf das halbe Dutzend schimmernder Kälteschlaf-Tanks gerichtet war.
Sie nahm sich vor, Becker bei Gelegenheit zu fragen, ob er sicher war, keinen Fehler zu begehen, indem er diesem halben Kind so großes Vertrauen schenkte.
Dann betraten sie die Liftkabine und fuhren wieder nach oben.
Als sie den halben Weg hinter sich hatten, begannen überall in der Station die Alarmsirenen zu heulen.
10. Kapitel - Vergangenheit
4. Dezember 1998
Es hatte mehr als zweihundert Jahre gedauert, diese Stadt zu bauen. Der Zusammenbruch erfolgte in einer einzigen Nacht.
Der Weg zurück nach Manhattan war ein Alptraum gewesen, an den sie sich nur noch bruchstückhaft erinnerte. Irgendwo auf halber Strecke hatte sie aufgehört, all die Schrecken und all das Unvorstellbare in sich aufnehmen zu wollen, das sie sahen. Sie hatte schon an jenem aller ersten Morgen begriffen, dass die Welt sich nun endgültig verändert hatte und dass New York nie wieder das werden würde, was es einmal gewesen war.
Die Straßen waren mit liegengebliebenen Fahrzeugen verstopft gewesen. An zahllosen Stellen waren Brände ausgebrochen, und überall wurde gekämpft. Sie waren am Ende ihrer Kräfte gewesen, als sie gegen Mittag das Apartmenthaus im Herzen Manhattans erreicht hatten. Auf dem Weg dorthin hatten sie alles gesehen, was zum Szenario einer sterbenden Millionenstadt gehörte: Panik, Tod und Angst, Plünderer und Menschen, die gegeneinander kämpften, nur keine Außerirdischen. Es waren die Bewohner New Yorks selbst, die ihre eigene Stadt zerstörten.
Sie verscheuchte den Gedanken, stand auf und goss sich mit zitternden Händen einen Martini ein. Ihre Hände zitterten jetzt oft, und sie ertappte sich immer häufiger dabei, mehr Alkohol zu trinken, als ihr gut tat. Sie musste aufpassen. Es war drei Tage her, dass ein halbes Kind in der Uniform der Nationalgarde vor der Tür ihres Apartments aufgetaucht war und sie und Mike hierher gebracht hatte, an einen der vier oder fünf Orte in New York, in denen das Leben wenigstens noch einen Anschein von Normalität hatte: die Keller der BANK OF AMERICA, ein ganzes Labyrinth von Stahlkammern und Gängen, winzigen Büros und nur unwesentlich größeren Schlaf- und Aufenthaltsräumen. Die kaum zwei mal drei Schritte messende Kammer, die man ihr und Mike allein zugewiesen hatte, stellte einen unbeschreiblichen Luxus dar.
Sie blickte auf das Zifferblatt der mechanischen Uhr, die an der Wand gegenüber der Tür hing, stellte fest, dass sie noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, bis zu Beckers routinemäßigem Anruf, und machte sich trotzdem auf den Weg.
Draußen würde es laut und hektisch zugehen, aber hier drinnen hatte sie das Gefühl, zu ersticken; trotz der Klimaanlage, deren Summen so tat, als hätte es den Weltuntergang dreißig Meter über ihren Köpfen gar nicht gegeben.
Sie zog ihre Uniformjacke an, verließ die Kammer und machte sich auf den Weg zu dem zur Kommandozentrale umgewandelten Datensicherungsraum der Bank.
Die Gänge waren nicht ganz so überfüllt, wie sie angenommen hatte. In den letzten drei Tagen hatte sich die Lage hier unten ein wenig beruhigt, was allerdings nicht etwa hieß, dass es wirklich ruhig gewesen wäre. Immerhin war aus dem völligen Tohuwabohu der ersten vierundzwanzig Stunden eine Art geordnetes Chaos geworden, in das Colonel Stanley tatsächlich so etwas wie ein System gebracht hatte; ein System zwar, das nur er allein und sonst niemand verstand, das aber funktionierte.
Soweit in dieser Stadt überhaupt noch etwas funktionierte, dachte sie bitter.
Wieder drohten sie die Erinnerungen an den entsetzlichen Marsch durch New York zu übermannen, und wieder gelang es ihr nur mit Mühe, sie zu verscheuchen.
Es waren nicht nur die Angriffe der Fremden - jene erste Gruppe, der sie begegnet waren, war nicht die einzige geblieben -, sondern der totale Zusammenbruch einer riesigen Stadt. New York hatte sich in ein Gebirge aus Stein verwandelt. Es gab keine Wasserversorgung mehr, keinen Strom. Kein Telefon und keine Ärzte, keine Taxis und keine Feuerwehr, kein...