New York starb einen gnadenlosen Tod.
Gestern - war es gestern, als Mike und sie draußen gewesen waren? Sie wusste es kaum noch. Man verlor rasend schnell jedes Zeitgefühl, in dieser unterirdischen Welt aus Neonlicht und weiß gestrichenem Beton. Gestern oder wann auch immer hatten sie das Bankgebäude verlassen, um sich draußen umzusehen, und hatten ein Geräusch gehört, das fast wie eine wunderbare Musik geklungen hatte: das Brummen eines Automotors. Augenblicke später war ein uralter Militärlaster vor dem Bankgebäude vorgefahren. Jemand hatte die zerstörte Zündspule herausgenommen und durch etwas Selbstgebasteltes ersetzt, dessen Anblick jeden Ingenieur in den Wahnsinn getrieben hätte, aber jedenfalls funktionierte.
Stanley und die anderen waren fast in einen Freudentaumel ausgebrochen, aber Charity hatte der Anblick eher deprimiert. Das alles war von ihrer High-Tech-Welt übriggeblieben.
Sie erreichte die Kommandozentrale, zeigte dem Posten vor den Eingang ihren Dienstausweis und trat geduckt an der tonnenschweren Panzertür vorbei. Noch vor einer Woche hätte ihr Dienstausweis ihr diesen Weg nicht geöffnet. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt, gleich hinter der angrenzenden Wand, lag der Tresorraum der Bank, ein chromblitzendes Gewölbe, in dem genug Geld aufgestapelt war, um diese ganze Stadt zu kaufen. Nur, dass es jetzt nichts mehr wert war. Andersen und ein paar andere Bankleute, die manchmal noch hier herunterkamen und nervös die Soldaten beobachteten, die an ihren unersetzlichen Computern herumspielten, wollten das noch nicht wahrhaben, obwohl es auch der einfachste Soldat bereits wusste.
Trotzdem war sie für die Paranoia dieser Bankmenschen und ihrer Vorgesetzten sehr dankbar, denn schließlich war sie dafür verantwortlich, dass es dieses Gewölbe überhaupt gab, ein Kellergeschoss der Bank, das nicht nur bombensicher, sondern auch gegen jede nur denkbare Form elektromagnetischer Strahlung gehärtet war - und das alles nur, dachte Charity spöttisch, um auch nach dem großen Knall noch die genauen Kontostände der Einleger dieser Bank zu kennen!
Es war absurd. Manchmal fragte sie sich, ob sie einer Rasse von unheilbar Geisteskranken angehörte.
Noch absurder allerdings war, dass es in dieser ganzen Stadt drei Banken und ein Krankenhaus gab, dessen Computeranlagen auf diese Weise geschützt waren - keine einzige militärische Anlage, geschweige denn die Telefonzentralen oder auch nur ein einziges verdammtes Funkgerät! Die Militärs kannten die Gefahr eines NEMP seit fünfzig Jahren, aber niemand in dieser Stadt hatte etwas dagegen unternommen, ganz einfach, weil es zu teuer gewesen wäre.
Sie sah sich nach Mike um, entdeckte ihn nirgends und winkte statt dessen Stanley zu, der über einen Kartentisch gebeugt dastand und Zahlen auf den Rand eines Blattes kritzelte. Eilig durchquerte sie den Raum, beugte sich neugierig über seine Schulter und sah, dass es eine Straßenkarte New Yorks war. Große Gebiete waren schraffiert, andere mit roten oder grünen Kreuzen versehen. Sie fragte nicht, was diese Markierungen bedeuteten.
»Sie sind früh«, sagte Stanley, ohne von seiner Karte aufzublicken. In seiner Stimme schwang eine leise Spur von Missbilligung mit. Es war nichts Persönliches; ganz im Gegenteil.
Charity spürte, dass Stanley sie mochte, und auch sie empfand eine gewisse Sympathie für ihn. Aber Stanley hätte den Platz, den Mike und sie beanspruchten, bitter nötig gehabt. In einer Stadt, deren funktionierende Teile auf knapp dreihundert Quadratmeter zusammengeschrumpft waren, machte jeder uneingeladene Besucher Unannehmlichkeiten.
»Wie sieht es aus?« fragte sie, eigentlich nicht aus wirklichem Interesse, sondern vielmehr, um überhaupt etwas zu sagen.
Zu ihrer Überraschung sah er jetzt doch von seiner Karte auf.
»Hier?« fragte er. »Oder im Rest der Welt.«
»Ist das ein Unterschied?«
»Und ob«, antwortete Stanley ernsthaft. Sorgsam faltete er seine Straßenkarte zusammen und deutete Charity, näher heranzutreten.
Darunter kam eine Weltkarte im DIN-A-2-Format zutage. Jemand hatte mit roter Tusche große Teile Nordamerikas, Europas und Asiens übermalt; auch auf dem Rest der Welt prangten rote Flecken.
»Die roten Stellen sind Gebiete, die sie besetzt haben«, sagte er.
»Jedenfalls die, von denen wir wissen, dass sie da sind. Aber wahrscheinlich sind es sehr viel mehr. Ist schwer geworden, an Neuigkeiten zu kommen, wissen Sie?«
Charity erschrak ein wenig. Vor zwei Tagen, als er ihr diese Karte das erste Mal gezeigt hatte, waren die roten Flecke weniger zahlreich gewesen und sehr viel kleiner. Es war nicht die Tatsache ihres Vormarsches an sich, sondern die Schnelligkeit, mit der er sich entwickelte. Wenn es so weiterging, dachte Charity bedrückt, hatten sie die ganze Erde in vier Wochen erobert.
»Und hier?« fragte sie.
»New York?« Stanley lächelte. »Sehr viel besser, wie in den meisten großen Städten. Ich schätze, dass sie an etwa fünfzig Stellen aufgetaucht sind. Aber wir werden mit ihnen fertig.«
Seine Worte ließen Charity schaudern. Ihr Gesichtsausdruck schien ihre Gefühle sehr deutlich zu verraten, denn Stanley lächelte plötzlich und versuchte, seinerseits ein beruhigendes Gesicht zu ziehen. »Nur keine Sorge«, sagte er. »Wir werden mit ihnen fertig. Wenn es sein muss, können wir uns monatelang halten. Vielleicht Jahre.«
Charity blickte auf die Weltkarte. Die roten Flecken darauf behaupteten das Gegenteil.
»Das ist etwas anderes«, sagte Stanley, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Verwechseln Sie eine Stadt wie New York nicht mit dem offenen Land. Dort sind sie unseren Jungs wahrscheinlich haushoch überlegen, vor allem jetzt, wo sie uns praktisch entwaffnet haben. Aber hier ...« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »New York ist so etwas wie eine Bergfestung, wissen Sie? Wir haben zwar keine reguläre Armee hier, aber die Nationalgarde allein bringt leicht hunderttausend Mann auf die Beine. Und jeder gute Amerikaner«, fügte er hinzu, nun allerdings eindeutig spöttisch, »hat schließlich sein Gewehr im Schrank, nicht?«
»Es waren bisher nur wenige«, sagte Charity vorsichtig. »Eine Art Vorhut.«
Stanley nickte. »Sicher. Lassen Sie sie ruhig kommen, Captain Laird. Wir werden auch ohne Raumschiffe und Laserkanonen mit ihnen fertig, mein Wort darauf. Diese Ungeheuer werden sich einer Million guter altmodischer Gewehrläufe gegenübersehen, wenn sie wirklich so dumm sind, diese Stadt erobern zu wollen.«
Charity widersprach nicht. Sie wusste, wie wenig Sinn es hatte, mit Stanley über dieses Thema streiten zu wollen. Sie hatte es versucht, gleich am ersten Tag, aber es war zwecklos - und vermutlich hatte Stanley sogar recht. Es war völlig unmöglich, eine Stadt wie New York erobern zu wollen. Aber vielleicht wollten sie das gar nicht. Die Angriffe der letzten Tage waren wahrscheinlich nur Nadelstiche gewesen, die keinem anderen Zweck dienten, als ihre Stärke zu testen. In Wahrheit hatten sie es gar nicht nötig, New York zu erobern. Sie brauchten nur abzuwarten, bis alles von selbst zusammenbrach.
Stanley wollte weitersprechen, aber in diesem Moment erwachte das Funkgerät pfeifend zum Leben. Stanley sah auf, runzelte überrascht die Stirn und trat nach einem Blick auf die Uhr hinter den Mann, der das Gerät bediente. Charity folgte ihm. Es war zu früh für Beckers Routineruf.
Fast gebannt sah sie zu, wie der Soldat behutsam an den klobigen Armaturen des uralten Röhrengerätes arbeitete, um den Sender scharf einzustellen. Der Apparat stammte nicht nur scheinbar, sondern im wortwörtlichen Sinne aus einem Museum, ebenso wie das knappe Dutzend anderer Funkgeräte, das jetzt New Yorks einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte.
»Becker?« fragte Stanley nervös.
Der Mann an den Kontrollen nickte und reichte Stanley die Kopfhörer.
»Für Sie, Sir«, sagte er. »SS Nulleins. Commander Becker persönlich.«
Stanleys Gesichtsausdruck wurde noch um einige Nuancen düsterer, während er sich die Kopfhörer überstülpte und auf dem Stuhl Platz nahm, den der Soldat für ihn räumte. Er meldete sich, antwortete ein paarmal mit Ja oder Nein auf Fragen, die Becker am anderen Ende der Leitung stellte, und stand nach ein paar Augenblicken wieder auf. Sein Blick flackerte.