Zweihundert Meilen, dachte Charity betroffen. Das bedeutete, dass sie acht- bis zehnmal nachtanken mussten, ehe sie SS Nulleins erreichten. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würden. Nicht mit diesem Wrack.
»Aber um Ihren Treibstoffvorrat brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Croyd aufgeräumt fort. »Der Vogel ist vollgetankt. Es reicht, wenn sie ein Stück aufs Meer hinausfliegen und ein paar Runden drehen. Wir wollen nicht wissen, ob das Ding kunstflugtauglich ist, sondern nur, ob es fliegt.«
Mike sah verwirrt auf, aber Charity warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, und er schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge gelegen hatte.
Vielleicht war es besser, wenn er nicht wusste, dass sie nicht wiederkommen würden.
Stanley kam zurück, und Croyd beendete seine Erklärung in aller Hast und sprang wieder zu Boden, um den Colonel Platz zu machen.
Charity sah, wie er um den Hubschrauber herumging und geschickt am Heck hinaufkletterte, um sich am Motor zu schaffen zu machen.
In der rechten Hand hielt er ein gut anderthalb Meter langes Seil. Es dauerte einen Moment, bis sich Charity an seine Worte erinnerte, den fehlenden Anlasser betreffend. Er und seine Kollegen musste eine Art Schwungrad gebastelt haben, um ihn wie die Maschine eines Motorbootes anzuwerfen.
»Sind Sie so weit?« fragte Stanley. Er sprach sehr leise, wohl damit Croyd und die anderen Mechaniker seine Worte nicht hörten.
Charity nickte.
»Ich... hoffe, Sie kommen durch«, sagte Stanley leise. Es klang traurig, aber Charity spürte, dass es ehrlich gemeint war. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihm in irgendeiner Weise Trost zuzusprechen. Und sei es nur, um sich auf diese Weise selbst einzureden, dass sie ihn und all die anderen hier nicht einfach im Stich ließen. Aber sie nickte nur dankbar.
»Fliegen Sie so lange wie möglich an der Küste entlang«, sagte Stanley. »Soviel ich weiß, konzentrieren sie sich im Moment eher auf das Landesinnere. Und falls Sie auftanken müssen, tun Sie es auf irgendeinem Highway, möglichst weit weg von der nächsten Stadt. Es gibt wahrscheinlich fünfzig Millionen Menschen in diesem Land, die sie ohne zu zögern umbringen würden, um einen Platz in dieser Maschine zu kriegen.«
»Ich weiß«, sagte Charity. »Wir... wir passen schon auf, Colonel.«
»Sie werden es nicht schaffen«, fuhr Stanley fort. Er sprach schnell, fast tonlos, in der Art eines Mannes, der hastig einen auswendig gelernten Text herunterrasselte, um ja nichts zu vergessen. »Nicht mit diesem Schrotthaufen. Wenn Sie runter müssen, versuchen Sie irgendeinen Wagen wieder flott zumachen. Einen alten Ford vielleicht oder einen Dodge oder Volkswagen. Die Dinger bestehen praktisch nur aus Blech, kaum Elektronik.«
Charity wollte antworten, aber Stanley hörte nicht mehr hin. Mit einem Satz sprang er von der Kufe der Maschine herab, warf die Tür zu und hob befehlend den Arm. Über Charitys und Mikes Köpfen erwachte der altmodische Benzinmotor des Helikopters stotternd und spuckend zum Leben. Einen Moment lang lief er unruhig und drohte wieder auszugehen, aber dann gab Mike vorsichtig Gas, und sein Lauf wurde gleichmäßiger. Über dem zerschrammten Plexiglas der Kuppel begannen sich die vier Rotorblätter ganz langsam zu drehen.
Die großen Rolltore der Halle wurden geöffnet. Grelles Sonnenlicht flutete in die Halle und ließ Charity blinzeln. Mike hob schützend die Hand vor die Augen, griff mit der anderen in die Brusttasche seines Hemdes und zog eine Sonnenbrille hervor.
Auf einen weiteren Wink Stanleys hin befestigten einige Soldaten zwei Drahtseile an den Kufen des Hubschraubers und zogen die kleine Maschine ins Freie. Charity musste sich alle Mühe geben, um möglichst gelassen auszusehen, während sie darauf warteten, starten zu können. Die Männer wichen respektvoll vor den pfeifenden Rotoren zurück und bildeten einen weiten Kreis um die Maschine.
Wieder hatte sie das Gefühl, all diese Männer im Stich zu lassen.
Ein bisschen kam sie sich fast vor, als wäre sie schuld an dem, was ihnen passieren würde.
»Ist irgend etwas?« fragte Mike. Ihm war nicht entgangen, wie ruhig sie plötzlich geworden war und wie verkrampft sie auf ihrem Sitz hockte.
Charity schüttelte den Kopf und sah demonstrativ in eine andere Richtung. Zwei Minuten später hoben sie ab.
Sie hatten Glück, in zweifacher Hinsicht. Croyd und seine Männer schienen wirklich so etwas wie ein kleines Wunder vollbracht zu haben, denn der Hubschrauber flog ganz ausgezeichnet, und der Tag war beinahe windstill, so dass Mike sich ganz darauf konzentrieren konnte, sich an diesen seltsamen Vogel zu gewöhnen.
Sie folgten Croyds Rat und flogen in geringer Höhe, aber sehr schnell, aufs offene Meer hinaus, schlugen dann einen Bogen und näherten sich wieder der Küste.
Die verwaiste Plastikwelt von Coney Island huschte unter ihnen hinweg, dann jagte der Schatten des Helikopters über die ersten Häuser der Vororte hinweg.
Drüben in Manhattan hatte die Stadt einen chaotischen Anblick geboten, aber hier wirkte sie ... tot. Sie hatte damit gerechnet, dass das Motorengeräusch der Maschine die Menschen auf die Straße locken würde, aber sie sah niemanden.
Wenn hier überhaupt noch jemand lebte, dann verkrochen sie sich in ihren Häusern. Fast gegen ihren Willen musste sie wieder an das Haus voller Toter denken, das sie entdeckt hatten. Vielleicht war es dort unten dasselbe, dachte sie schaudernd. Vielleicht waren es Häuser voller Leichen, über die sie hinwegflogen.
Mike beugte sich ein wenig im Pilotensitz vor, blickte nach unten und korrigierte den Kurs des Hubschraubers dann ein wenig. Sie flogen jetzt fast parallel zur Küste, und kaum noch höher als dreißig Meter. Trotzdem regte sich unter ihnen nichts.
»Niles?« fragte sie.
Mike nickte. »Wenn ich das Haus finde«, sagte er. »Sieht alles ein bisschen anders aus, von hier oben.«
Gut zehn Minuten lang flogen sie nach Süden. Sie sahen jetzt doch gelegentlich Menschen - hier und da einen Radfahrer oder ein paar Leute, die der Lärm der Rotoren aus den Häusern gelockt hatte.
Schließlich erreichten sie die Straße, in der Niles' Haus lag.
Selbst aus einer Höhe von weniger als dreißig Metern deutete hier nichts auf die Katastrophe hin, die den Lebensnerv New Yorks durchschnitten hatte - eine normale Straße voller kleiner, geschmackvoller Einfamilienhäuser, die sich hinter liebevoll gepflegten Vorgärten aneinander reihten.
Mike lenkte den Helikopter im Tiefflug über das Haus hinweg, in dem Niles mit seiner Familie wohnte, kam in einer weit geschwungenen Kurve zurück und setzte auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor dem Haus auf, so dicht, dass die Rotoren fast das Vordach berührt hätten. »Beeil dich«, sagte er knapp.
Charity löste ihren Sicherheitsgurt und wollte die Tür öffnen, aber Mike hielt sie am Arm zurück. »Nimm das Ding mit«, sagte er und machte eine Kopfbewegung auf die Maschinenpistole, die zwischen ihren Sitzen lag.
Einen Moment lang war Charity fast versucht, es zu tun. Dann schüttelte sie den Kopf, stieß die Tür auf und sprang aus der Kanzel, ehe Mike sie abermals zurückhalten konnte. Geduckt lief sie auf das Haus zu, wobei sie sich aufmerksam nach beiden Seiten hin umsah.
Hinter den Fenstern des Nachbarhauses erschien ein Schatten; etwas blinkte. Aber niemand kam auf die Straße heraus.
Hinter ihr heulte der Motor des Helikopters auf, und für einen Moment warf sie der künstliche Sturmwind der Rotoren fast um, als Mike die Maschine wieder startete und zehn Meter über der Straße in der Luft anhielt. Offensichtlich nahm er Stanleys Warnung sehr ernst.
Die Tür wurde geöffnet, als sie noch zwei Meter vom Haus entfernt war, und Niles trat heraus. Er trug eine einfache, schwarze Cordhose und eines der grell bunten Hemden, die er so liebte. Unter seinem Gürtel steckte eine Pistole. Und er wirkte kein bisschen überrascht, als er Charity sah.