Sekundenlang blickte er sie schweigend an, dann hob er den Kopf und sah zu dem Helikopter hinauf. »Wo habt ihr denn das Museumsstück aufgetrieben?« fragte er. Seine Stimme klang sehr müde. Charity sah einen Schatten hinter ihm im Haus und ein Paar dunkler Augen, die sie fast angstvoll musterten. Sie registrierte mit einem völlig unbegründeten Gefühl des Schreckens, dass es die Augen eines Kindes sein mussten. Eine M16 mit aufgeschraubtem Zielfernrohr lehnte an der Wand. Mit aller Gewalt musste sie sich dazu zwingen, Niles wieder anzublicken.
»Es fliegt, oder?« sagte sie.
Niles lachte humorlos. »Ja«, sagte er. »Es geht wieder aufwärts, wie?«
»Wir... haben den Rückruf bekommen«, sagte sie zögernd. »Vor zwei Stunden, Niles. Von Becker persönlich.«
»SS Nulleins?« Niles deutete wieder auf den Hubschrauber. »Mit dem Ding?«
»So weit wir kommen«, antwortete Charity achselzuckend.
Verdammt, was war nur mit ihr los? Plötzlich fiel es ihr schwer, weiterzusprechen.
»Wir alle drei, Niles«, sagte sie.
Niles verzog die Lippen, aber sie wusste nicht einmal, ob es ein Lächeln sein sollte. »Ist da drinnen Platz für drei Passagiere?«
Charity schüttelte wortlos den Kopf, und auch Niles schwieg fast eine Minute lang. »Dann wünsche ich euch viel Glück«, sagte er schließlich.
»Du... kommst nicht mit?«
Niles lächelte jetzt wirklich. »Nein, Captain. Auch nicht, wenn Sie es mir befehlen.«
»Du weißt, was das bedeutet?« fragte sie sehr leise.
Niles nickte abermals. Sein Gesicht war wie eine Maske aus Stein.
Nach einer Weile drehte sie sich einfach herum und gab Mike ein Zeichen, den Helikopter zu landen, damit sie wieder einsteigen konnte. Als der Helikopter eine halbe Minute später wieder startete, beugte sie sich noch einmal im Sitz vor und blickte in die Tiefe.
Niles stand zusammen mit einer dunkelhäutigen Frau und einem vielleicht zehnjährigen Mädchen hinter dem Haus. Die Frau winkte ihnen zu. In den Armen des Kindes lag eine Maschinenpistole, aber es hielt sie nicht wie eine Waffe, sondern so, wie ein Kind eine Puppe hielt, in beiden Armen und fest gegen die Brust gepresst.
Charity vergaß dieses Bild nie wieder.
Sie waren hundert Meilen von New York entfernt, als die Stadt unterging, und trotz der großen Entfernung konnten sie es sehen. Der Tag war sehr klar, und sie flogen jetzt sehr hoch, so dass die Türme Manhattans noch immer als verschwommene Silhouette vor dem Horizont zu erkennen waren. Als es geschah, wendete Mike den Hubschrauber und hielt ihn reglos in der Luft, so dass sie das schreckliche Schauspiel in allen Einzelheiten verfolgen konnten.
Es war eine Art Nebel, der aus dem Nichts kam und sich wie eine halbdurchsichtige riesige Kuppel über New York stülpte; die Faust eines Giganten, die sich lautlos um die Millionenstadt schloss und alles Leben darin auslöschte. Die steinernen Giganten Manhattans stürzten nicht, es gab keinen Rauch, keine Flammen, auch keine schreckliche Explosion, die die Stadt vom Angesicht der Erde fegte.
Sie dachte an das reglos daliegende Haus, das Niles und der Soldat vor fünf Tagen entdeckt hatten, und plötzlich wusste sie, dass es dieselbe fürchterliche Macht war, die jetzt nach der ganzen Stadt griff und alles Leben darin auslöschte - schnell und gnadenlos und gründlich.
Die Glocke aus grauem Nichts blieb nur für wenige Minuten über der Stadt, ehe sie sich aufzulösen begann, sehr langsam und ungleichmäßig, als wäre die Macht, die sie bisher in ihrer Form gehalten hatte, urplötzlich erloschen und gäbe sie nun dem Wind preis. In der Kuppel aus waberndem Nebel entstanden große, wirbelnde Risse... schließlich war es nur noch ein dünner Schleier, aus dem die Wolkenkratzer Manhattans emporwuchsen wie abgestorbene Bäume aus einem nebelverhangenen Motor.
Mike wendete schweigend den Hubschrauber und brachte die Maschine wieder auf Kurs. Keiner von ihnen sprach ein einziges Wort, bis sie das erste Mal zwischenlanden mussten.
11. Kapitel - Gegenwart
12. Dezember 1998
Der Kontrollraum glich einem Hexenkessel. Das Licht flackerte in hektisch pulsierendem Rot, und die Sirenen schrillten und schrillten. Sie hielt nach Becker Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken, was aber kein Wunder war: In dem riesigen Computersaal herrschte das reinste Chaos.
Die Karte auf dem Wandschirm war verschwunden; statt dessen zeigte der riesige Monitor jetzt einen Ausschnitt einer der oberen Etagen; welche, konnte Charity nicht genau erkennen, denn das Bild war voller Staub und Rauch und fliegender Trümmer. Sie sah fliehende Menschen, hinter ihnen ein riesiger Schatten.
In die aufgeregten Rufe der Zentralbesatzung mischten sich gellende Schreie und das gedämpfte Krachen von Explosionen.
Endlich entdeckte sie Becker - er stand auf der anderen Seite der Zentrale, auf halber Höhe der Treppe, die zu der rundum laufenden Empore hinaufführte.
Charity rief seinen Namen, winkte aufgeregt mit den Armen und schaffte es tatsächlich, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Becker blieb stehen, erwiderte ihr Winken und wartete ungeduldig, bis sie sich durch das Chaos in der Zentrale zu ihm durchgekämpft hatte.
»Was ist passiert?« fragte sie erregt.
Becker deutete mit einer fast wütenden Kopfbewegung auf den Bildschirm.
»Sie sind durchgebrochen«, sagte er. Charity fiel erst jetzt auf, dass er in Schweiß gebadet war.
»Durch die Tore?«
Becker schüttelte abgehackt den Kopf. »Nein. Es ... es sieht so aus, als kämen sie direkt aus dem Boden.«
Aber das war unmöglich! dachte Charity fassungslos. Über ihnen war eine halbe Meile Granit! Ungläubig wandte sie sich um und starrte auf den riesigen Videoschirm.
Und wie um Beckers Worte auf grässliche Weise zu bestätigen, klärte sich in diesem Moment das Bild. Der Staub, der den Blick der Kamera bisher verschleiert hatte, legte sich ein wenig, und sie sahen zum ersten Mal den Gegner, der die sicherste Bunkeranlage der Welt gestürmt hatte: Sie erkannte jetzt, welchen Teil der Bunkeranlage die Kamera zeigte - es war nicht die Eingangshalle, sondern die dritte Ebene, ein riesiger Wohn- und Lagerkomplex, der bereits mehr als dreihundert Meter unter dem Boden lag. Die Rückwand der gewaltigen Halle, auf die die Kameraoptik gerichtet war, war zusammengebrochen.
Die mannsdicken Stahlbetonpfeiler, die die Decke getragen hatten, waren wie Streichhölzer zusammengeknickt, und auch in den Wänden und im Boden gähnten Risse.
Und inmitten dieses Chaos aus Trümmern und wirbelndem Staub...
Charity stöhnte vor Entsetzen.
Es war ein Monster; ein Ungeheuer im wahrsten Sinne des Wortes: ein gigantischer, sicher mehr als zwanzig Meter langer und gut fünf Meter durchmessender Wurm von schwarzbrauner Farbe, ohne irgendwelche erkennbaren Gliedmaßen oder Sinnesorgane.
Sein Körper befand sich in beständiger, zuckender Bewegung, als lebte jedes einzelne seiner zahllosen Segmente für sich. Ein gigantisches Maul öffnete und schloss sich wie das eines Fisches auf dem Trockenen.
Charity erkannte eine fünffach gestaffelte Reihe kräftiger stumpfer Zähne.
Ein dünner, blutroter Laserstrahl stach nach dem Ungeheuer. Er traf, aber eine Wirkung war nicht zu erkennen. Das braunschwarze Fleisch schien die geballte Ladung an Lichtenergie einfach aufzusaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm einen Wasserstrahl.
Das Bild schwankte. Selbst durch hundert Meter massiven Fels hindurch spürte Charity das Zittern, als ein weiterer Teil der Rückwand zusammenbrach.
Aus dem Chaos tauchte ein zweiter dieser gigantischen Wurmkreaturen auf, und diesmal erkannte sie deutlich den kreisrunden Schacht, aus dem sie hervorgekrochen kam. Einen Schacht, der direkt in den gewachsenen Fels der Rockys hineinführte und sanft anstieg...