Sie versuchte die Hände herunterzunehmen und provozierte damit eine rasche, drohende Bewegung des Gewehres. »Tun Sie lieber nichts, wozu Sie keine Zeit mehr hätten, es zu bereuen«, sagte der Junge.
Charity unterdrückte ein Seufzen. In welchem Film hatte er diesen Satz aufgeschnappt? dachte sie. Aber sie gehorchte trotzdem.
Aus dem Motel näherte sich ihnen jetzt eine Gruppe von fünf oder sechs Männern.
Zwei von ihnen gingen auf den Helikopter zu, während die anderen hinter dem Jungen stehen blieben. Zwei weitere Gewehre und der Lauf einer kleinen Damenpistole richteten sich auf Charity.
»Hören Sie«, sagte sie, »wir sind amerikanische Soldaten, keine Marsmenschen. Ihre Vorsicht in allen Ehren, aber ich bin müde und mir tut jeder einzelne Knochen im Leib weh. Kann ich jetzt vielleicht endlich die Hände herunternehmen?«
Sie hatte ziemlich scharf gesprochen, und der rüde Ton erzielte die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Der Junge wirkte plötzlich nicht mehr halb so sicher; schließlich nickte er.
»Sagt Stan Bescheid«, sagte er, an einen der anderen Männer gewandt. »Wir haben sie. Ich glaube nicht, dass es Russen sind.«
Russen? Charity riss die Augen auf und starrte den Jungen an.
Was zum Teufel...
Ihre Überraschung entging dem Jungen keineswegs, und natürlich deutete er es völlig falsch. Das misstrauische Funkeln in seinen Augen wurde wieder stärker.
»Oder?« fragte er.
»Natürlich nicht«, antwortete Charity hastig. »Verdammt, schauen Sie sich meine Uniform an - sehe ich aus wie ein russischer Soldat?«
Der Junge kam tatsächlich einen Schritt näher und blickte misstrauisch auf das kleine Sternenemblem über ihrer Brust. »US Space Force?« Er starrte sie an, drehte den Kopf und blickte zum Helikopter hinüber. Plötzlich grinste er. »Komische Raumschiffe habt ihr neuerdings.«
Seine Bemerkung brach den Bann.
Charity konnte regelrecht sehen, wie die Spannung aus den Gesichtern der anderen wich, und auch der Junge atmete hörbar auf.
Trotzdem zögerte sie noch einen Moment, die Hände herunterzunehmen.
Diese Männer waren mehr als nur nervös. Eine einzige falsche Bewegung, und ihre Reise fände ein vorzeitiges Ende.
Sie setzten sich in Bewegung und gingen zum Motel hinüber. Der Motor des Helikopters erstarb mit einem seufzenden Geräusch, als sie die halbe Strecke geschafft hatten, aber Charity sah sich nicht einmal um. Irgendwie würden sie das Ding schon wieder in Gang kriegen, dachte sie. Und wenn nicht... nun, sie waren ohnehin schon sehr viel weiter gekommen, als sie erwartet hatte. Im Moment interessierte sie sich sehr viel mehr für ein Bett. Mike und sie brauchten dringend Schlaf.
Im Inneren des Motels hielten sich etwa zehn Menschen auf - ein paar Angestellte, ein ältliches Ehepaar, dem man seine Angst selbst auf zwanzig Meter Entfernung ansah, ein Mann in kariertem Hemd, den sie ganz instinktiv als den Fahrer des Tanklasters einschätzte, und ein junges Pärchen in Lederkleidung.
Sie erinnerte sich flüchtig, eine Harley draußen auf dem Parkplatz gesehen zu haben. Strandgut, dachte sie, das der nie erklärte Krieg in diesem Motel zusammengetrieben hatte.
Ein übergewichtiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug kam auf sie und Mike zu, als sie das Lokal betraten. Mit Ausnahme des älteren Ehepaares war er der einzige, der keine Waffe trug, und doch wusste sie, dass sie dem Führer dieser kleinen Gemeinschaft gegenüberstand.
»Sie sind Stan?« fragte sie.
Er nickte. Sein Blick war vollkommen ausdruckslos, während er Mike und sie musterte. »Und Sie Captain Laird, wenn ich mich nicht irre.«
»Jedenfalls heiße ich nicht Lairdowska«, antwortete Charity säuerlich. »Wie zum Teufel kommen Sie auf die Schnapsidee, dass wir Russen sein könnten?«
Stan zuckte unbeeindruckt die Achseln. »Gibt nur zwei Möglichkeiten, oder? Die Ameisen oder die Roten. Wie Ameisen sehen Sie nicht aus, Captain.«
Ameisen? dachte sie verwirrt.
Dann begriff sie.
Keiner von diesen Menschen wusste, was wirklich passiert war - wahrscheinlich waren sie vor fünf Tagen hier einfach durch Zufall zusammengekommen, und alles, was sie gesehen hatten, war der große Blitz. Seither saßen sie hier fest.
Sie verzichtete auf eine Antwort auf Stans Bemerkung, steuerte einen der Tische an und ließ sich seufzend daran nieder. Plötzlich war sie nur noch müde. Und sie hatte entsetzliche Angst vor den Fragen, die sie stellen würden.
»Sie sehen aus, als könnten sie eine kleine Stärkung vertragen«, sagte Stan, nachdem sich auch Mike zu ihnen gesetzt hatte. »Polly - mach unseren Gästen etwas zu Essen. Und einen starken Kaffee.« Er lächelte, als er Charitys dankbaren Blick bemerkte, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich rittlings darauf nieder. Nach und nach kamen auch die anderen heran, bis Mike, Charity und er von einem guten Dutzend Männern und Frauen umringt waren.
»Was ist passiert?« fragte Stan schließlich. Charity sah widerstrebend auf, und er musste spüren, dass sie ihm nicht antworten wollte, denn er fügte mit einer entschuldigenden Geste hinzu: »Wir sind seit einer Woche von allem abgeschnitten, wissen Sie? Hier funktioniert fast nichts mehr. Hat es ... Krieg gegeben?«
Charity schüttelte den Kopf, nickte und schüttelte gleich darauf wieder den Kopf. Mike warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Sie konnte diese Leute einfach nicht belügen, obwohl sie das sichere Gefühl hatte, einen schlimmen Fehler zu begehen, wenn sie antwortete.
»Nicht mit den Russen, wenn Sie das meinen«, sagte sie. »Ich fürchte, drüben sieht es auch nicht anders aus als hier.«
»Es waren die Ameisen?«
Eine sonderbare Bezeichnung für die Außerirdischen, dachte Charity. Sie nickte.
»Sie haben sie gesehen?«
»Ein paar«, antwortete der junge Mann in der Motorradkleidung. »Vor zwei Tagen. Haben sich drüben in den Hügeln rumgetrieben. Aber sie sind nicht hergekommen.«
Wären sie es, dachte Charity, dann wärst du kaum noch am Leben, mein Freund.
Dann sah sie wieder Stan an und versuchte zu lächeln. »Sie sind nicht die einzigen, die abgeschnitten sind«, sagte sie vorsichtig.
Stans Gesicht verdüsterte sich. »Der große Knall, nicht?« sagte er. »Sie haben dieses ganze verdammte Land lahmgelegt.«
»So ungefähr«, gestand Charity.
»Sie können nicht hier bleiben«, sagte Mike. »Es kann Monate dauern, bis Hilfe kommt. Und die Außerirdischen ...«
»Die sollen nur kommen«, unterbrach ihn der Junge, der Charity überrascht hatte. »Wir haben Lebensmittel für ein halbes Jahr. Und genug Munition, um sie auf den Mars zurückzuschicken.«
Stan schwieg dazu. Seinem Gesicht war nicht die mindeste Regung anzusehen.
Aber Charity spürte genau, was in ihm vorging. Außer ihr und Mike war er vielleicht der einzige, der wusste, was wirklich auf sie zukam.
»Ihr Hubschrauber«, sagte Stan plötzlich. »Wieso fliegt er? Hier funktioniert nichts mehr.«
»Ein paar Techniker in New York haben ihn hingekriegt«, antwortete Charity ausweichend. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wie lange er durchhält.«
»Aber wenn er funktioniert, dann müssen doch auch andere Maschinen wieder arbeiten«, sagte der Motorradfahrer. »Ich meine - unsere Jungs werden doch kommen und diese verdammten Aliens zurückjagen, oder?«
Charity wollte antworten, aber Stan war schneller. Mit einer befehlenden Geste wandte er sich an den anderen. »Halten Sie den Mund, Patrick. Sie sehen doch, dass die beiden völlig fertig sind. Ich schlage vor, wir lassen Sie jetzt erst einmal in Ruhe. Sie werden essen und sich dann gründlich ausschlafen, Captain. Sie sehen aus, als könnten Sie beides gebrauchen.«
Sie hatten weder für das eine noch für das andere Zeit, aber Charity widersprach nicht. Ihre Chance, SS Nulleins lebend zu erreichen, war nicht besonders groß, wenn Mike oder sie am Steuerknüppel des Helikopters einschliefen. Dankbar nickte sie Stan zu.