»Wohin?« fragte sie.
Stone sah sich einen Moment lang mit deutlicher Hilflosigkeit um. Dann deutete er nach links. »Versuchen wir es. Vielleicht haben wir Glück, und sie sind noch nicht hier.«
Sie liefen weiter. Der Boden unter ihren Füßen zitterte noch immer leicht, und manchmal glaubte Charity wieder dieses schreckliche, hämmernde Geräusch zu hören, als wenn irgendwo Wände zusammenstürzten. Dann erkannte sie, dass es nur das Hämmern ihres eigenen Herzens war.
Endlich sah sie, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatte: einen kreisrunden, feuerrot gestrichenen Stahldeckel, massiv wie eine Safetür und mit einem Schloss versehen, zu dem es nur ein knappes Dutzend Schlüssel gab. Die Fluchtrutsche.
Sie blieb stehen, lehnte sich einen Moment gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen, und griff dann in die Tasche. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie Mühe hatte, den kleinen, kompliziert geformten Schlüssel zu finden.
»Wir müssen weiter, Captain«, sagte Stone keuchend. »Sie können jeden Moment hier auftauchen!«
Charity schüttelte den Kopf. Sie wollte antworten, aber ihr Mund war plötzlich voller bitter schmeckendem Speichel. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur versuchte, zu sprechen. Unsicher kramte sie den Schlüssel hervor, taumelte auf das Panzerschott zu und versuchte ihn ins Schlüsselloch zu stecken. Ihre Hände zitterten so stark, dass es ihr nicht gelang.
»Helfen Sie mir, Stone«, sagte sie mühsam. »Ich... schaffe es nicht.«
Stone rührte sich nicht von der Stelle. Seine Augen waren weit vor Angst und Unglauben. »Sie wollen doch nicht wirklich da rein?« fragte er.
»Haben Sie eine bessere Idee?« keuchte Charity. »Verdammt, Stone, es ist aus! Der ganze Laden hier geht in ein paar Minuten in die Luft.« Sie begriff, dass er ihr nicht helfen würde, drehte sich wieder um und versuchte erneut, den Schlüssel in den schmalen, plastikversiegelten Schlitz zu schieben. Diesmal gelang es ihr, aber sie musste beide Hände zu Hilfe nehmen; die linke, um ihre rechte zu halten, die einfach zu stark zitterte. Wie wollte sie nur ein Raumschiff fliegen?
»Das werden Sie nicht tun«, sagte Stone ruhig. Seine Stimme klang hysterisch.
Vorsichtig ließ sie den Schlüssel los, drehte sich ganz langsam herum...
...und blickte genau in den Lauf seines Lasergewehres.
»Sind Sie... wahnsinnig geworden?« fragte sie entsetzt.
Stone schüttelte den Kopf. Charity sah, wie sein Zeigefinger nervös über den Abzug der tödlichen Waffe strich.
»Sie werden nicht dort hineingehen«, sagte er noch einmal. »Ich brauche Sie hier.«
»Stone, bitte«, sagte Charity verzweifelt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Stone meinte es ernst, das spürte sie ganz genau.
Aber er war zu weit entfernt, als dass sie eine reelle Chance gehabt hätte, ihn zu überwältigen. Nicht mit ihrem verletzten Bein. »Sie... Sie können mitkommen«, sagte sie. »Ich sorge dafür, dass Sie einen Platz auf der CONQUEROR bekommen. Ich brauche sowieso Hilfe im Cockpit, und ...«
»Gehen Sie von der Tür weg«, unterbrach sie Stone. »Schnell!«
Charity nahm die Hände ein wenig höher und trat gehorsam zwei Schritte zur Seite. Stones Lasergewehr folgte ihrer Bewegung.
»Was... was haben Sie vor?« fragte Charity stockend. Sie verlagerte ihr Körpergewicht ein wenig, versuchte, das verletzte Bein zu entlasten, um Kraft für einen Sprung zu sammeln. Es war Wahnsinn, aber sie hatte keine Wahl. Er würde schießen, das wusste sie.
»Das werden Sie schon noch früh genug merken«, antwortete Stone. »Sie werden mich hier herausbringen, Captain. Und ich Sie. Aber wir schaffen es nur zusammen.«
Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die Panzertür. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mitkommen können, Stone. Ich hätte Sie sowieso mitgenommen. Das Schiff ist groß genug. Stecken Sie die Waffe weg. Ich verspreche Ihnen, dass ...«
Sie sprang. Völlig ansatzlos federte sie auf Stone zu, drehte sich dabei halb um ihre Achse und zielte mit dem linken, unverletzten Fuß auf sein Handgelenk.
Und Stone drückte ab.
16. Kapitel - Vergangenheit
9. Dezember 1998
Barton und seine kleine Armee waren kurz nach seinem Besuch im Gefängnis abgerückt, und mit Ausnahme des Mannes, der ihnen das Essen gebracht hatte, war er der letzte gewesen, der zu ihnen kam.
Der Rest des Tages war so vergangen, wie Tage in Gefängnissen seit Urzeiten zu vergehen pflegten: langsam und eintönig und vor allem von Langeweile bestimmt. Irgendwann war es ihr trotz allem gelungen einzuschlafen.
Charity erwachte, als ein lauter Donner die ganze Stadt erzittern ließ. Für eine halbe Sekunde drang hellroter Feuerschein durch das winzige Zellenfenster, dann erlosch er wieder.
Verwirrt setzte sie sich auf, lauschte einen Moment und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. In der Zelle neben ihr regte sich Mike. Auch er sah müde aus, aber auch auf seinem Gesicht war der gleiche, ungläubige Schrecken zu erkennen, den auch Charity spürte.
»Was war das?« fragte er alarmiert.
Charity hob andeutungsweise die Schultern, stand vollends auf und trat ans Fenster.
Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinaussehen zu können, doch sie sah nichts anderes als das, was sie den ganzen Tag über gesehen hatte: einen kleinen, von einer zwei Meter hohen Ziegelsteinmauer umschlossenen Innenhof, auf dem sich Abfälle und leere Kisten und Farbeimer stapelten. Der Himmel war schwarz.
»Es klang wie eine Explosion«, sagte sie zögernd. »Vielleicht war es auch ...«
»Was?« fragte Mike, als sie nicht weitersprach. Seine Stimme klang spöttisch. »Das klang nicht nur wie eine Explosion - es war eine«, fuhr er fort. »Unser Freund Barton kommt zurück. Und ich fürchte, nicht allein.«
Charity sah ihn nachdenklich an. Aber sie verzichtete auf eine Antwort, sondern drehte sich wieder herum und blickte abermals aus dem Fenster. Sie lauschte angestrengt, aber der Explosionsdonner wiederholte sich nicht. Dafür glaubte sie ein fernes Rufen zu hören und dann sehr schnelle Schritte, die sich dem Gebäude näherten.
Jemand schrie.
Mike begann wütend an den Gitterstäben zu rütteln.
»Wache!« brüllte er. »Kommen Sie her! Verdammt noch mal, Wache!«
Charity hatte nicht damit gerechnet - aber tatsächlich hörten sie plötzlich das Geräusch der Schlüssel, und einer der beiden Männer, die draußen auf dem Flur Wache hielten, kam herein. Er war blass und wirkte überaus nervös.
»Was geht da draußen vor?« fragte Mike aufgeregt. »Sie greifen an, nicht wahr? Sie kommen hierher. Verdammt, machen Sie die Tür auf!«
Der Mann machte einen halben Schritt auf das Gitter zu und blieb wieder stehen.
Irgendwo, sehr weit entfernt, aber näher als beim ersten Mal, krachte eine zweite Explosion.
»Lassen Sie uns raus!« sagte Mike noch einmal. »Um Gottes willen, Mann, sie werden uns alle umbringen, wenn wir nicht fliehen!«
»Unsinn«, widersprach der Soldat. »Barton wird schon mit ihnen fertig.«
»Das hört man«, antwortete Mike gereizt. »Verdammt, sind Sie taub? Sie hören doch, was da draußen los ist!«
»Ich... kann nicht«, antwortete der GI nervös. »Barton lässt mich erschießen, wenn ich Sie laufen lasse.« Und damit wandte er sich fast fluchtartig um und warf die Tür hinter sich zu.
»Bravo«, sagte Charity spöttisch. »Fühlst du dich jetzt besser?«
Mike funkelte sie wütend an. »Dieser Idiot«, fauchte er. »Wir werden hier verrecken, nur weil dieser hirnlose Idiot da draußen Krieg spielen muss!«
So aufbrausend und wütend hatte sie Mike noch nie erlebt. Er hatte sich sehr verändert, ohne dass sie genau sagen konnte, worin diese Veränderung bestand.