Sie hörte Schreie und Schüsse und dazwischen immer wieder das dumpfte Echo schwerer Explosionen. Es war ein Wunder, dass sie kein einziges Mal angegriffen wurden.
Charity hatte längst die Orientierung verloren. Sie wusste nicht mehr, auf welcher Ebene sie waren oder wohin Stone sie brachte. Sie wusste nur, dass er den Verstand verloren haben musste.
Sie blieb stehen, als Stone ihr mit einer abgehackten Geste gebot, anzuhalten.
Warnend hob er die Waffe, deutete auf die gegenüberliegende Wand und machte eine Bewegung, sich dorthin zu setzen und nicht zu rühren.
Charity hätte es nicht einmal gekonnt, wenn sie es gewollt hätte.
Ihr linker Arm und ihr rechtes Bein führten einen verbissenen Wettkampf darin, sich gegenseitig mit Schmerzwellen zu übertreffen; sie fühlte sich so schwach wie nie zuvor im Leben.
Stone sah sie einen Moment lang scharf an, dann drehte er sich mit einer abrupten Bewegung um und verschwand in einem Seitengang. Aber sie wusste, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Er würde nur Sekunden fortbleiben.
Für Augenblicke drohte sie die Besinnung zu verlieren. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus.
Verbissen kämpfte Charity das Gefühl nieder, atmete gezwungen tief ein und aus und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, die schwarzen Schleier zu vertreiben, die ihre Gedanken einlullen wollten. Der Schmerz in ihrem Arm trieb ihr die Tränen in die Augen.
Dabei war die Wunde kaum größer als ein Stecknadelkopf. Stone hatte den Laser auf die niedrigste Wirkungsstufe eingestellt gehabt, und ihr Körperschild hatte dem Strahl zusätzlich Energie entzogen.
Aber das, was ihren Arm schließlich getroffen und durchbohrt hatte, war immer noch genug gewesen, jeden einzelnen Nerv in ihrer linken Körperhälfte zur Weißglut zu bringen. Sie wusste nicht, ob sie den Arm jemals wieder würde bewegen können.
Stone kam zurück. Auf seinem Gesicht lag noch immer der gleiche, gehetzte Ausdruck. Hastig überzeugte er sich davon, dass der Gang hinter ihnen noch leer war, dann kniete er neben ihr nieder und half ihr dabei, aufzustehen. Charity wollte seinen Arm beiseite stoßen, aber sie konnte es nicht.
»Geht es noch?« fragte er. Er lächelte. »Es ist nicht mehr weit. Nur ein paar Schritte.«
»Hören Sie doch auf, Stone«, sagte Charity mühsam. »Das... das hat doch alles... keinen Zweck mehr.« Selbst das Sprechen bereitete ihr Mühe.
»O doch«, widersprach Stone. »Sie werden mir noch dankbar sein, Captain.« Er verstärkte den Druck seiner Hand ein wenig und zwang sie mit sanfter Gewalt, weiterzugehen. Ein weiterer finsterer Gang nahm sie auf. Stone schaltete seinen Scheinwerfer ein und ließ den bleichen Lichtstrahl über weißgestrichenen Beton gleiten.
Flüchtig sah sie eine gewaltige Panzertür, deren Schloss offensichtlich mit einem Laser herausgeschnitten worden war.
Aber sie begriff trotzdem erst, als er sie durch diese Tür stieß und sie die Tanks sah.
Für einen Moment vergaß sie sogar ihre Schmerzen, so verblüfft war sie. Es war so naheliegend, dass sie sich fragte, wieso sie nicht längst von selbst auf die gleiche Idee gekommen war. Aber es war auch ebenso verrückt wie naheliegend.
Die Tanks! Großer Gott, das... das konnte überhaupt nicht funktionieren!
»Das ist nicht Ihr Ernst, Stone«, sagte sie erschüttert.
Stone ließ ihren Arm los, entfernte sich rückwärts gehend und machte sich irgendwo hinter ihr an der Wand zu schaffen. Der grelle Strahl seiner Taschenlampe wich dabei keine Sekunde von Charitys Gesicht.
Etwas klickte, und mit einem Male erlosch das blendende Weiß von Stones Lampe, aber eine Sekunde später glomm unter der Decke das düstere Rotlicht der Notbeleuchtung auf. Charity taumelte vor Schwäche. Der Schock klang ebenso rasch ab, wie er gekommen war, und Schmerzen und Übelkeit meldeten sich zurück. Mühsam drehte sie sich zu Stone um und sah zu, wie er sich an der Kontrolltafel neben der Tür zu schaffen machte. Er stellte sich nicht besonders geschickt dabei an, aber er hatte Erfolg. Irgendwo hinter ihr begann ein Elektromotor zu summen. Über der Tür flackerte ein Warnlicht, dann ein zweites, und dann schoben sich zwei gewaltige, gezahnte Metallplatten aus Boden und Decke und eine zweite, zwanzig Zentimeter starke Tür aus fast unzerstörbarem Stahl, die sich in wenigen Augenblicken schließen und diesen Raum hermetisch versiegeln würde. Charity wusste, dass es außer einem atomaren Sprengkopf nicht viel gab, was diese Barriere zerstören konnte.
»Bitte, Stone«, sagte sie so ruhig, wie sie nur konnte. »Sie wissen nicht, was Sie tun. Das ist Selbstmord!«
Stone lachte, aber sein Gesicht blieb dabei unbewegt. Nur sein Blick flackerte.
»Selbstmord wäre es, draußen zu bleiben«, sagte er. »Sie werden die Dinger da jetzt einschalten, Captain. Zwei Stück - einen für mich und einen für Sie.«
Charity blickte unsicher zu dem halben Dutzend gewaltiger Stahlsärge hinüber, auf die Stone gedeutet hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich gar nicht«, behauptete sie. Nervös sah sie zur Tür. Die beiden stählernen Zahnreihen waren nur noch einen halben Meter voneinander entfernt. Noch Sekunden, und die Falle schloss sich.
»Das ist nicht wahr!« sagte Stone heftig. Das Lasergewehr in seinen Händen ruckte drohend hoch. »Ich weiß, dass Sie es können. Ich habe mich erkundigt, wissen Sie?«
»Theoretisch«, sagte Charity leise. »Es ist Selbstmord, Stone! Niemand hat diese Dinger je ausprobiert; außer ein paar Affen. Und von denen ist nur die Hälfte wieder aufgewacht!«
»Ich weiß«, antwortete Stone. Die Panzerplatten waren jetzt noch fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Noch Sekunden, dachte Charity. Sie musste irgend etwas tun, wenn sie jemals wieder aus dieser Falle herauskommen wollte!
Aber sie konnte es nicht. Stone hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihr auch noch in den anderen Arm schießen würde, wenn sie versuchte, ihn anzugreifen oder zu fliehen.
»Eine Fünfzig-Prozent-Chance reicht mir«, fuhr Stone fort. »Ist mehr, als wir draußen haben, oder?«
»Und die anderen? Becker und... und die, die jetzt unten beim Schiff auf uns warten?« fragte Charity. »Sie bringen sie um, Stone.«
»Das haben sie schon längst selbst getan«, antwortete Stone zornig. »Was glauben Sie, wie weit Sie mit ihrem lächerlichen Raumschiff kommen, ehe die Fremden Sie abschießen?« Er schüttelte heftig den Kopf und deutete befehlend auf die Tanks.
»Fangen Sie an, Captain.«
Die stählernen Zahnreihen berührten sich. Es geschah vollkommen lautlos. Nur die flackernden Warnlampen über der Tür erloschen wieder. Charity schloss mit einem kaum hörbaren Seufzer die Augen. Gefangen, dachte sie. Nein, schlimmer - sie waren lebendig begraben.
»Fangen Sie an!« sagte Stone noch einmal.
»Und wenn ich es nicht tue?« Charity lächelte. »Sie können mich nicht zwingen, Stone. Erschießen Sie mich, wenn es Ihnen Spaß macht. Das geht schneller.«
Stone lächelte kalt, und Charity begriff, dass er auf diese Antwort gewartet hatte.
»Vielleicht kann ich das wirklich nicht«, sagte er. »Aber Sie werden es tun, Captain - entweder jetzt oder in ein paar Tagen, wenn sie halb verrückt vor Hunger und Durst sind.« Er hob befehlend die Waffe. »Los!«
Wahrscheinlich hatte er sogar recht, dachte Charity. Es war aus, so oder so.
Trotzdem dauerte es noch lange, ehe sie sich umdrehte und zögernd auf den ersten der sechs riesigen Hibernationstanks zuging.