„Bisher sind auf Wemar keine Gräber entdeckt worden“, gab Fletcher zu bedenken. „Das äußere Zeichen der Ehrung oder des Gedenkens an die Toten kann auf den Glauben an ein Leben nach dem Tod hindeuten. Natürlich können wir das nicht mit Sicherheit sagen, doch nach den bisherigen Informationen scheinen die Wemarer nicht religiös zu sein.“
„Danke, Doktor“, sagte Murchison, als ihr Prilicla das Wort erteilte. Dann ging sie zur Computerkonsole, rief über die Tastatur noch einmal die von der Tremaar übermittelten Informationen ab und hielt die Aufzeichnungen an, als auf dem Schirm die erste der vielen Nahaufnahmen der Einheimischen erschien. „Die Wemarer Lebensform gehört zur physiologischen Klassifikation DHCG. Für die Nichtmediziner unter uns: Es handelt sich also um eine warmblütige sauerstoffatmende Spezies, deren ausgewachsener Körper knapp dreimal so schwer wie der eines Terrestriers und in gesundem Zustand verhältnismäßig muskulös ist, da die Schwerkraft auf Wemar an der Oberfläche eins Komma drei acht Ge beträgt.“
Falls überhaupt, dachte Gurronsevas, als Murchison die übrigen Fotos und Filmaufnahmen von Wemarern über den Schirm laufen ließ, dann ähnelten die DHCGs einem seltenen terrestrischen Tier namens Känguruh, von dem er einmal ein Bild gesehen hatte. Die Unterschiede bestanden darin, daß der Kopf der Wemarer größer war und ein Maul mit wirklich furchterregenden Zähnen besaß; die kurzen Vorderglieder endeten in sechsfingrigen Händen, deren Daumen den Fingern gegenübergestellt werden konnten, und der Schwanz war größer und schwerer und verjüngte sich zu einer breiten, flachen, dreieckigen Spitze, die aus einer starren knöchernen Substanz bestand, die wiederum von einer dicken Muskelschicht umgeben war. Die Abflachung am Ende des Schwanzes erfüllte, wie Murchison erklärte, einen dreifachen Zweck: Sie diente als wichtigste natürliche Waffe, als Behelfsorgan zur schnellen Fortbewegung, wenn sich der DHCG auf der Jagd befand oder selbst gejagt wurde, und als Transportmittel für Kinder, die noch zu klein zum Laufen waren.
Unter den Aufnahmen befand sich eine reizende Szene mit zwei Erwachsenen — Gurronsevas war sich immer noch nicht sicher, welcher Wemarer zu welchem Geschlecht gehörte—, die ihre Schwänze und zwei ihrer vergnügt quiekenden Nachkommen hinter sich herzogen, sowie eine weniger entzückende Sequenz, in der sie sich auf der Jagd befanden. Damit begannen sie, indem sie mit fest verschränkten Armen eine unbeholfene, fast lächerlich wirkende Stellung einnahmen: dabei berührte das Kinn den Boden, und die langen Beine waren weit gespreizt, damit sich der Schwanz zwischen ihnen scharf nach oben und unten krümmen und so den Gleichgewichtspunkt des Körpers bilden konnte. Wurde der Schwanz plötzlich zu voller Länge gestreckt, diente er als kräftiges drittes Bein, durch das die Wemarer imstande waren, sich fünf oder sechs Körperlängen nach vorne zu schnellen.
Wenn der Jäger nicht direkt auf seiner Beute landete und das Tier mit den Füßen bewußtlos trat, bevor er es mit einem tiefen Biß in die Halswirbel und die darunterliegenden Nervenstränge lahmte, dann drehte er sich schnell auf einem Bein um die eigene Achse und erschlug das Opfer auf diese Weise mit der abgeflachten Schwanzspitze wie mit einer stumpfen organischen Axt.
„Obwohl der Schwanz nach unten und nach vorne äußerst biegsam ist, kann er nicht über die Horizontale des Rückgrats gehoben werden“, fuhr Murchison fort. „Genaue Einzelheiten werden wir erst erfahren, wenn wir in der Lage sind, eine Untersuchung mit dem Innenscanner vorzunehmen, doch aus dem äußerlich sichtbaren Bau der Rücken- und Schwanzwirbel und der mit ihnen verbundenen Muskulatur können Sie erkennen, daß es unmöglich ist, den Schwanz ohne eine schwerwiegende Wirbelverschiebung nah an den Rücken zu biegen. Daher sind der Rücken und die oberen Flanken die einzigen Körperbereiche der Wemarer, die nicht gegen Angriffe durch natürliche Feinde geschützt sind, die zusätzlich allerdings noch über ein Überraschungsmoment verfugen müssen, wenn sie nicht selbst zum Opfer werden wollen.“
Nun folgte eine Szene, die einen Vierbeiner zeigte, der sich von einem überhängenden Ast auf einen Wemarer stürzte und dessen Fell so schwarz war, daß vom Körper außer den langen, scharfen Zähnen und den noch längeren Krallen nur wenige Einzelheiten zu erkennen waren. Das Tier schlug dem DHCG die Krallen tief in den von einem Mantel bedeckten Rücken und riß ihm an der Seite den Hals auf, während der Wemarer mit Hilfe seines Schwanzes wie wild umhersprang und versuchte, das Tier abzuschütteln, damit er seinen Speer einsetzen konnte. Entweder durch Zufall oder mit Absicht stieß der DHCG schließlich bei einem seiner fast senkrechten Sprünge gegen die Unterseite eines anderen überhängenden Asts und zerquetschte das Raubtier, wobei ihm selbst eine große Menge Blut und innere Organe durch den Mund herausgepreßt wurden. Danach stürzten beide zu Boden, wo sie, wie Murchison erklärte, wenige Minuten später starben.
Bevor ihm von dem Anblick übel werden konnte, richtete Gurronsevas die Augen auf den nächsten Bildschirm.
„Das Tier mit dem schwarzen Fell ist wahrscheinlich das gefährlichste Tier, auf das die DHCGs wegen seines Fleisches Jagd machen, und man kann sich auf jeden Fall darüber streiten, wer eigentlich wen frißt“, setzte Murchison ihre Ausführungen fort. „Doch genug von dieser blutigen Angelegenheit. Die habe ich Ihnen nur gezeigt, um Sie sowohl gegenüber den intelligenten als auch den nichtintelligenten Lebewesen auf Wemar bewußter und vorsichtiger zu machen und um einen wichtigen Punkt in der Anatomie der DHCG zu betonen. Die Bestätigung wird bis zu einem Innenscannen des Magens und Verdauungstrakts der Wemarer warten müssen, doch gestützt auf das, was wir von außen gesehen haben, können wir jetzt schon sagen.“
Für mehrere Minuten verfiel die Pathologin in eine dermaßen massive Fachsprache, daß Gurronsevas nur noch jedes zweite Wort verstand. Doch ihre Schlußzusammenfassung war, vielleicht mit Rücksicht auf den Tralthaner, klar verständlich und schlicht.
„…folglich kann es keinen Zweifel daran geben, daß sich die DHCG-Lebensform als Allesfresser entwickelt hat und dies bis heute geblieben ist“, sagte Murchison. „Dafür, daß sie in ihrer Entwicklung jemals den für wiederkäuende Pflanzenfresser charakteristischen mehrteiligen Magen besessen hätte, gibt es keinerlei äußere Anzeichen, und ich möchte behaupten, ihr Verdauungssystem ist nicht spezialisiert und unserem nicht unähnlich — das heißt natürlich mit Ausnahme von Danalta. Rechnen Sie den Umstand hinzu, daß die ganz jungen Wemarer dabei beobachtet worden sind, wie sie eine Mischung aus pflanzlichen und tierischen Stoffen gegessen haben, wobei sich der Anteil des Verzehrs von Fleisch mit Erreichen der Pubertät erhöht. Bei einer vernunftbegabten Spezies bedeutet das, die Gewohnheit, Fleisch zu essen, ist eher eine Sache der persönlichen Entscheidung als eine physiologische Notwendigkeit. In der Vergangenheit der Wemarer hat es vielleicht einmal Umweltfaktoren oder soziale Umstände gegeben, durch die sie bei dieser Entscheidung beeinflußt worden sind, doch in der momentanen Situation ist sie, aus welchem Grund auch immer, falsch. Wenn wir die Wemarer nicht dazu bringen können, ihre derzeitigen Eßgewohnheiten zu ändern, werden sie ihre Beutetiere bis zur völligen Ausrottung jagen, während sie selbst verhungern, weil sie das Jagen nicht lassen können. Als Bauern wären sie vielleicht imstande, gerade so eben zu überleben.“
Murchison hielt inne, blickte alle Anwesenden der Reihe nach mit unbeweglicher und ernster Miene an und sagte dann grimmig: „Irgendwie müssen wir einen ganzen Planeten von Fleischessern davon überzeugen, Vegetarier zu werden.“
Auf ihre Worte folgte eine lange Stille. Weder die Pathologin noch Danalta rührten sich, doch Prilicla wurde von der starken emotionalen Ausstrahlung auf dem Unfalldeck regelrecht durchgeschüttelt, und über Naydrads silbriges ausdrucksfähiges Fell liefen plötzlich kleine Strudel und Wellen, als ob es ebenfalls von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt würde.