Als Chefkoch der Einrichtung hatte Remrath viel mit ihm gemein, dachte Gurronsevas. Natürlich waren das Wissen und der Wortschatz des Wemarers stark beschränkt, doch sie sprachen beide dieselbe Sprache. Für das medizinische Team wäre es hilfreich, überlegte der Tralthaner, wenn er herausfinden könnte, was auf Wemar einem Arzt entsprach.
„Und wer von Ihnen beschäftigt sich mit den schwerer erkrankten oder verletzten Wemarern?“ erkundigte er sich. „Gibt es einen speziellen Ort, an dem sie behandelt werden? Und was wird für sie getan?“
Es trat eine lange Stille ein, und Gurronsevas wunderte sich schon, ob er den Chefkoch mit seinen anscheinend arglosen Fragen gekränkt haben könnte, als sich Remrath doch noch zu einer Antwort durchrang.
„Leider bin ich dafür verantwortlich“, sagte er. „Außerdem spreche ich mit Fremdweltlern über derartige Dinge nicht, Gurronsevas, und nicht einmal mit Freunden. Erzählen Sie mir lieber noch mehr über Ihre merkwürdigen Serviermethoden.“
Sie kehrten zu dem Thema zurück, das, wie Gurronsevas wußte, ungefährlich war, und das er persönlich sowieso viel aufregender fand.
Anfangs interessierte sich Remrath lediglich aus Höflichkeit dafür. Offensichtlich fand er Gefallen an der komfortablen Fahrt auf der Trage und war darauf bedacht, dieses Vergnügen zu verlängern. Doch kaum hatte Gurronsevas den Chefkoch dazu gebracht, den Gedanken zu akzeptieren, daß Essen vielleicht etwas mehr als die bloße Aufnahme von organischem Brennstoff sei, und ihm mit Begeisterung von den vielen Zeremonien und Raffinessen, die auf anderen Planeten beim Zubereiten und Anrichten ins Spiel kamen, und von den zahlreichen verschiedenen Gängen berichtet, die als Teil einer einzigen Mahlzeit serviert werden konnten, war Remraths Interesse ernsthafter geworden, wenn sich auch gelegentlich ein hohes Maß an Ungläubigkeit hineinmischte.
„Daß Sie ein Gericht als Kunstwerk ansehen, wie es zum Beispiel eine schöne Holzschnitzerei oder ein Wandgemälde ist, kann ich ja noch nachvollziehen“, warf Remrath an einer Stelle ein. „Obwohl so ein Gericht zwangsläufig ein sehr kurzlebiges Kunstwerk ist, zumal dann, wenn der Kochkünstler mit seiner Arbeit Erfolg hat. Doch das Geschmacksempfinden mit den Freuden zu vergleichen, die man beim Schaffen eines Kunstwerks hat. das ist doch wohl übertrieben, oder?“
„Vielleicht nicht, wenn Sie bedenken, daß man sich beim Essen einen Augenblick intensiven Genusses verschafft, der durch Erfahrung und kontrolliertes Hinauszögern verstärkt und ausgedehnt werden kann“, gab Gurronsevas zu bedenken. „Ein normales Kunstwerk hingegen bereitet einem eine ständige, wenn auch zugegebenermaßen weniger starke Freude, die bedeutend länger anhält, die nicht so sehr durch das Alter oder körperliche Erschöpfung beeinflußt wird und auf keinen Fall vorzeitig vorbei ist.“
„Wenn Sie das mit Nahrungsmitteln erreichen können, müssen Sie wirklich ein sehr guter Koch sein“, stellte Remrath fest. „Ich bin der beste“, merkte Gurronsevas in aller Bescheidenheit an.
Remrath stieß einen Laut aus, der nicht übersetzt wurde, und das gleiche tat aus irgendeinem Grund auch Naydrad.
Als man sich auf den Rückweg zur Mine machte, lagen nur noch die obersten Berghänge über dem Tal im Licht der untergehenden Sonne, und die Lufttemperatur war bereits merklich gefallen. Die jungen Mitglieder der Arbeitsgruppen und Klassen liefen und hüpften unbeaufsichtigt in kleinen Rudeln über den ebenen Boden vor dem Eingang. Wie Remrath erklärt hatte, handelte es sich hierbei um eine Beschäftigung, in der die Kinder bestärkt wurden, damit sie Hunger für das Abendbrot bekamen und ihre überschüssige Energie abbauten, um besser zu schlafen; sie konnten sich nämlich irreparable Verletzungen zuziehen, wenn sie nachts in den Stollen herumliefen. Obwohl die Schaufelräder ständig Strom erzeugten, war die Mine außer unter besonderen Umständen nachts nicht beleuchtet, da der geringe noch vorhandene Vorrat an Glühbirnen nicht aufgestockt werden konnte.
„Beabsichtigen Sie, diese Wunderwerke des Geschmacks auch für uns zu vollbringen?“ fragte Remrath plötzlich. „Wie wollen Sie das machen, wo Sie doch überhaupt keine Ahnung von Wemarer Nahrungsmitteln haben und kaum eine Messerspitzevoll von meinem Eintopf probiert haben?“
„Ich will es zumindest versuchen“, antwortete Gurronsevas. „Doch zuerst müssen die Proben untersucht werden, um sicherzustellen, daß sie für mich nicht schädlich sind. Sollten sie sich nicht bloß für die Wemarer, sondern auch für mich als genießbar erweisen, dann und nur dann werde ich versuchen, etwas zu kreieren. Selbstverständlich muß ich jedes Gericht beziehungsweise jeden einzelnen Gang eines Menüs, das ich zubereite, zuerst selbst probieren. Für Ratschläge zu Geschmacksvorlieben und — Intensitäten wäre ich Ihnen sehr dankbar, da sich mein tralthanischer Geschmackssinn in gewisser Hinsicht bestimmt von dem der Wemarer unterscheidet, doch ich würde niemals jemandem ein Gericht servieren, das ich vorher nicht bis auf den letzten Bissen selbst verzehrt hätte.“
„Selbst ein Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, kann interessant zu beobachten sein“, merkte Remrath an. „Möchten Sie jetzt in die Küche zurückkehren?“
„Nein“, lehnte Gurronsevas in entschiedenem Ton ab, da er es nicht gewohnt war, seine künstlerischen Fähigkeiten in dieser Weise in Zweifel gezogen zu sehen. „Die Analyse und das erste Experimentieren mit den Proben könnte etwas Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde morgen oder vielleicht ein oder zwei Tage später wiederkommen. Natürlich nur mit Ihrer Erlaubnis.“
„Brauchen Sie einen Führer, um wieder den Weg zu meiner Küche zu finden?“ fragte Remrath.
„Nein danke“, entgegnete Gurronsevas. „An den erinnere ich mich noch.“
Die beiden wechselten kein weiteres Wort miteinander, bis sie bei den tobenden jungen Wemarern vor dem Mineneingang ankamen. Zwei der Kinder halfen Remrath aus dem Transporter, und ein anderes versuchte, durch die Lücke zwischen der scheinbar in der Luft schwebenden Unterseite und dem Boden hindurchzukriechen, und berichtete den anderen dann aufgeregt schnatternd von dem eigenartigen Kribbeln, das das Repulsionsfeld bei ihm an Kopf und Armen hervorgerufen hatte. Ein weiterer Wemarer wollte gerade auf den leeren Transporter steigen, als Remrath ihn verscheuchte, indem er ihm androhte, ihn gleich in der Luft zu zerreißen und noch auf andere grausame Weise zu bestrafen, was angesichts der körperlichen Schwäche und eingeschränkten Bewegungsfreiheit des Chefkochs weder er selbst noch der junge Wemarer ernst nahmen.
Schon steuerte Naydrad den Transporter wieder auf das Schiff zu, und Gurronsevas wandte sich gerade ab, um sich ihr anzuschließen, als sich Remrath noch einmal zu Wort meldete.
„Tawsar würde sich ebenfalls freuen, wenn Sie uns wieder besuchten, um den Kindern von den fremden Planeten und Lebewesen und von den Wundern zu erzählen, die Sie gesehen haben“, sagte er. „Doch über Ihre Arbeit in der Küche dürfen Sie nur mir berichten, damit nicht wieder einer Ihrer Einfalle bezüglich des Essens bei jemandem zu psychischer Erregung oder Übelkeit führt.“
Der Tralthaner war gerade noch in der Lage, die eigene psychische Erregung unter Kontrolle zu halten, die durch die Erschütterung und die Wut darüber hervorgerufen wurde, daß es jemand auch nur anzudeuten wagte, der große Gurronsevas sei imstande, eine Mahlzeit zuzubereiten, von der irgend jemandem übel werden könne, bevor er in den näheren Bereich von Priliclas empathischen Fähigkeiten geriet.
Als er aufs Unfalldeck der Rhabwar zurückkehrte, hatte Naydrad die Proben bereits ausgeladen und machte sich gerade am Essensspender zu schaffen, wobei sich ihr Fell schon im voraus kräuselte, während Danalta völlig unbegreifliche Dinge an der Analysatorkonsole trieb.
Gurronsevas blickte sich nach Prilicla um, doch die Pathologin beantwortete ihm seine Frage, bevor er sie überhaupt stellen konnte.
„Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind Cinrussker nicht gerade ausdauernd“, erklärte Murchison lächelnd. „Prilicla schläft seit vier Stunden, und wir bemühen uns, unsere emotionale Ausstrahlung nicht zu stark werden zu lassen. Sie haben einen langen Tag hinter sich, Gurronsevas. Brauchen Sie was zu essen oder Schlaf oder beides?“