Remrath schwieg mehrere Minuten lang, und in dieser Zeit aß er den Nachtisch auf und machte sich wieder an seine zaghaften Kostproben des allmählich abkühlenden Hauptgerichts. Bei dem bloßen Gedanken, die einzelnen Gänge eines Menü in der falschen Reihenfolge zu sich zu nehmen, zog sich Gurronsevas alles zusammen, doch er hielt sich vor Augen, daß der Chefkoch in kulinarischer Hinsicht immer noch unkultiviert war. Schließlich brach Remrath das Schweigen.
„Gurronsevas“, sagte er, „Sie sind ein ganz schlauer und gerissener Grudlich.“
Zweifellos existierte letzterer Begriff ausschließlich in der Sprache der Wemarer, denn Gurronsevas’ Translator gab den Wortlaut ohne eine tralthanische Entsprechung wieder. Er vermied es absichtlich, Remrath nach einer genauen Übersetzung zu fragen; für heute hatte er genügend Beleidigungen einstecken müssen.
26. Kapitel
T unterstützt durch sämtliche Möglichkeiten der medizinischen Ausrüstung der Rhabwar und die Fachkenntnis des medizinischen Teams schritt die Erziehung der Wemarer zu Feinschmeckern rasch voran. Doch der Informationsfluß strömte jetzt in beide Richtungen und war nicht mehr allein aufs Kochen beschränkt, denn dem Team wurde endlich nach und nach das volle Ausmaß des Problems von Wemar bewußt, während es die Wemarer selbst allmählich aus dem Blickwinkel der Fremdweltler betrachteten, die eine Lösung zu finden versuchten. Auf beiden Seiten schritt der Lernprozeß in zufriedenstellendem Tempo voran.
Einst war Wemar ein grüner, dicht bewaldeter Planet gewesen, dessen dominante Lebensform schnell von der Stufe vor der Entwicklung von Intelligenz zu einer technisch fortschrittlichen Zivilisation aufgestiegen war, und zwar durch die herkömmliche Methode, Bündnisse zu schließen und sich regelmäßig mit der gegenseitigen Vernichtung durch zunehmend mechanische Formen der Kriegführung zu drohen. Zum Glück hatten die Wemarer nie die Kernspaltung oder — Verschmelzung entdeckt, so daß die Zivilisation unversehrt fortbestand, bis man allmählich lernte, in Frieden miteinander zu leben, und sich die Bevölkerung unkontrolliert vermehrte. Bedauerlicherweise war die Zivilisation der Wemarer in sich gekehrt und betrachtete die Naturschätze des Planeten, dessen Fauna und Flora und die nachwachsenden und fossilen Brennstoffreserven als unerschöpflich.
Man besaß nicht den Scharfblick zu sehen, was man dem Planeten eigentlich antat, bis es schließlich zu spät war.
Mit jeder neuen Generation verdreifachte sich die Bevölkerung auf Wemar, und mit diesem Wachstum hielt auch der Grad der Luftverschmutzung durch die energieverschlingenden und nicht mit Kernenergie betriebenen Herstellungsverfahren Schritt, bis die Ozonschicht in der Atmosphäre, die den Planeten gegen die schädlichen Anteile des Strahlenspektrums der Sonne schützte, zu guter Letzt immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wie beim Großteil der Planeten ohne Achsehheigüng und jahreszeitliche Temperaturwechsel wurden die Witterungsveränderungen auf Wemar allein durch die Planetenrotation hervorgerufen, weshalb das Wettergeschehen gewöhnlich unspektakulär und voraussagbar war. Als Folge davon stiegen die Schadstoffe ungehindert in die oberen Schichten der Atmosphäre auf und sammelten sich über dem Nord- und Südpol. Dort erhöhten sich die Schadstoffmengen nun und breiteten sich aus, wobei sie die Polargebiete der schützenden Ozonschicht beraubten und unerbittlich in die höheren Schichten der Stratosphäre über den stark bevölkerten gemäßigten Zonen und noch darüber hinaus vordrangen.
Zwar handelte es sich dabei um einen schleichenden Vorgang, doch nach und nach erkrankte die Vegetation auf der Planetenoberfläche von den Polen bis zu den subtropischen Breitengraden und ging zum Großteil ein, genau wie die großen Tierherden, die den Wemarern als Nahrung dienten und von den sterbenden Pflanzen abhängig waren, die Fische und die Unterwasserpflanzen an den flachen Stellen vor der Küste und schließlich in zunehmendem Maße auch die Wemarer selbst, die ohne ihr begehrtes Fleisch hungern mußten. Und es kam noch schlimmer: Dieselbe Sonne, durch deren Strahlen die von den Beutetieren verzehrten Pflanzen und Gräser einst gewachsen und gediehen waren, ließ sie jetzt verdorren und absterben, und auch die Wemarer hatten wegen eigenartiger, auszehrender Haut- und Augenkrankheiten, die durch den Aufenthalt im immer lebensgefährlicheren Sonnenlicht entstanden, viele Todesfälle zu beklagen.
Nach und nach brach ihre technische Zivilisation zusammen. Die stete Abnahme der Bevölkerung wurde durch immer grausamere Kriege beschleunigt, die die in den Äquatorgebieten lebenden und vergleichsweise gut genährten Reichen, die nach wie vor von einer ausreichend dicken Ozonschicht geschützt wurden, gegen die hungernden Armen in den gemäßigten Zonen führten.
Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte hatte sich die Lage stabilisiert, da die Weltbevölkerung stark dezimiert und die von ihr verursachte Verschmutzung abgebaut worden war, so daß der schwerkranke Planet jetzt gerade mit dem Selbstheilungsprozeß begann. Die Sonne ionisierte allmählich wieder die obere Atmosphäre und erneuerte die beschädigte Ozonschicht.
Mit der Zeit, vielleicht schon in vier oder fünf Generationen, wie die Besatzung der Tremaar beteuerte, würde der Heilvorgang abgeschlossen sein. Doch nur, wenn die geradezu tragisch wenigen verbliebenen Wemarer weiterhin überleben konnten und ihre Bevölkerung nicht wieder unkontrolliert wachsen ließen oder zu ihrer Unterstützung erneut die alte, umweltverschmutzende Technik einführten.
„Ich sage es Ihnen noch einmal“, warnte Gurronsevas den Chefkoch in sehr ernstem Ton, „beim nächsten Selbstmordversuch könnten die Wemarer Erfolg haben.“
Remrath blickte von den Desserts, die er gerade für die Lehrer und die in der Küche helfenden Schüler zubereitete, nicht auf und grummelte verärgert: „Wir Wemarer werden nicht gerne ständig daran erinnert, daß wir auf fast kriminelle Weise dumm sind. Selbstverständlich werden wir so etwas nicht noch einmal versuchen.“
„Tut mir leid. Was ich eben gesagt habe, ist übereilt und unbesonnen gewesen, weil mir diese Sache so sehr am Herzen liegt“, entschuldigte sich Gurronsevas schnell. „Sie sind weder dumm noch kriminell, und das gilt auch für alle anderen Wemarer, die ich kenne. Das Verbrechen ist von Ihren Vorfahren begangen worden. Die haben Ihnen das Problem hinterlassen, doch diejenigen, die es jetzt lösen müssen, sind Sie und Ihr Volk.“
„Ich weiß, ich weiß“, seufzte Remrath, der immer noch nicht von seiner Beschäftigung aufsah. „Indem wir Gemüse essen?“
„Bald wird es für Sie nichts anderes mehr zu essen geben“, stellte Gurronsevas zum wiederholten Male klar.
Im Laufe der vergangenen Tage waren er und Remrath sich nahegekommen wie zwei gute Bekannte, wenn nicht sogar Freunde, und diese Vertrautheit war so groß, daß Gurronsevas sich beim Aussprechen der Wahrheit nicht mehr durch das Hinzufügen von unnötigen Höflichkeitsfloskeln ablenken ließ. Diese schonungslose Aufrichtigkeit hatte anfangs Beunruhigung bei den Zuhörern auf der Rhabwar ausgelöst, die den Tralthaner nicht nur mit den neuesten Nachrichten versorgten, die sie fortwährend über die Wemarer Zivilisation herausfanden oder sich zusammenreimen konnten, sondern ihn auch ständig daran erinnerten, daß er ihre einzige wirksame Verbindung zu den DHCGs darstellte. Doch man erwartete von ihm, Remrath und den anderen Lehrern eine Situation zu erklären, die er selbst nicht voll und ganz begriff, weil er weder Arzt noch Anthropologe und nicht einmal Biologe war.