Danalta hatte die Gestalt eines Vierfüßers ohne natürliche Waffen angenommen, um keinen der Jäger zu beunruhigen. Der Verwandlungskünstler kam näher an Gurronsevas heran und murmelte: „Als uns Ihr Freund seine Hilfe angeboten hat, habe ich nicht mit etwas Derartigem gerechnet.“
„Obwohl wir über ein gemeinsames Interessengebiet verfügen, haben wir uns über andere Themen als nur übers Kochen unterhalten“, entgegnete Gurronsevas.
„Ganz offensichtlich“, stellte Danalta fest.
Unterdessen hatte man sich Creethar und der Trage bis auf zwanzig Meter genähert, und die Jäger machten keine Anstalten, den Weg freizugeben.
„Die seltsamen Wesen rund um mich herum sind in Frieden gekommen“, verkündete Remrath gerade. „Sie wollen uns nichts tun und sind begierig, uns zu helfen. Einer von ihnen“ — er deutete auf Gurronsevas — „hat uns bereits in der Mine dadurch geholfen, daß er uns in seltsamer und außergewöhnlicher Weise, die ich jetzt aus Zeitmangel nicht beschreiben kann, mit neuen Gerichten versorgt hat. Bei den anderen handelt es sich um Ärzte mit weitreichenden Erfahrungen, die ebenfalls bereit sind, uns zu helfen. Ich habe mich entschlossen, wie es mein Recht als Vater ist, ihnen zu erlauben, ihre fortschrittliche Heilkunst an uns auszuüben. Setzt die Trage ab und nehmt die Decken herunter.“
Mit leiser, weniger autoritärer Stimme stammelte er: „Ist. ist Creethar noch am Leben?“
Ein langes Schweigen antwortete ihm.
Prilicla flog voran und schwebte dann direkt über der Trage. Zwei der Jäger hoben die Speere und ein weiterer legte einen Pfeil in den Bogen und zielte auf den Empathen, ohne jedoch die Sehne vollständig zu spannen. Prilicla war sich der Gefühle von allen bewußt, beruhigte sich Gurronsevas, und würde sofort merken, falls ihn wirklich jemand anzugreifen beabsichtigte — hoffentlich noch rechtzeitig genug, um dem Geschoß
ausweichen zu können. Doch Priliclas Schwebeflug war unruhig, deshalb konnte es gut sein, daß er um seine Sicherheit genauso besorgt war wie Gurronsevas.
„Creethar ist am Leben“, berichtete der Empath, dessen Stimme in der Stille recht laut klang, „aber seine Lebenszeichen sind nur noch sehr schwach. Freund Remrath, wir müssen ihn sofort untersuchen und dann schnell aufs Schiff bringen. Danalta, lassen Sie uns einen Blick auf unseren Patienten werfen.“
Weitere Speere und Bogen wurden gehoben, und diesmal waren sie nicht mehr auf den äußerst zerbrechlich wirkenden Körper von Prilicla, sondern ausschließlich auf die praktisch undurchdringliche Haut des Gestaltwandlers gerichtet. Während Danalta vorsichtig die Tierhäute entfernte, die locker über die auf dem Boden liegende Trage geworfen waren, startete Remrath ein weiteres Ablenkungsmanöver, indem er vom Transporter stieg und seine Forderung wiederholte, Creethar den Fremdweltlern zu übergeben. Die Jäger drängten sich um den Chefkoch und redeten und schrien derart auf ihn ein, daß sie offenbar nichts von dem, was Prilicla, Danalta und Naydrad sagten und taten, mitbekamen.
Gurronsevas strengte sich nach besten Kräften an, jedem einzelnen zuzuhören, doch die Jäger wurden immer lauter und aufgeregter, und ihre Einwände waren bald so verworren, daß er schließlich überhaupt nicht mehr folgen konnte. Seine Versuche, aus dem, was sie sagten, schlau zu werden, wurden zusätzlich durch die Fähigkeit der Wemarer erschwert, in atemberaubender Geschwindigkeit aufeinander einzureden und sich gleichzeitig zuzuhören. Kurz schaltete er auf die Schiffsfreqüenz um, damit er das Gespräch des medizinischen Teams ohne Störung durch die Wemarer verfolgen konnte.
Prilicla sagte gerade: „Der Patient hat mehrfache Brüche und Fleischwunden an den Armen und in der Brust- und Bauchgegend davongetragen und weist ausgedehnte Quetsch- und Schürfwunden an beiden Seiten auf, die darauf schließen lassen, daß er im Drehen auf eine harte, unebene Oberfläche gestürzt ist, wahrscheinlich auf Steine. Wie Sie sehen können, haftet an den unverletzten Stellen noch etwas, das getrocknetem Sand oder Gesteinsstaub ähnelt, was darauf hindeutet, daß das zum Spülen der Wunden verwendete Wasser knapp war. Dem Scanner zufolge liegen außer einer Schädigung des Brustkorbs keine anderen inneren Verletzungen vor. Durch den Transport ist es zu einer weiteren Splitterung und Komplikation der Frakturen gekommen. Zudem ist ein ausgedehnter Gewebeabbau zu erkennen, aus dem sich schließen läßt, daß der Patient lange Zeit nichts getrunken und gegessen hat. Verglichen mit den normalen Lebenszeichen, die wir bei Tawsar gemessen haben, sehen die von Freund Creethar nicht gut aus. Er ist stark geschwächt und kaum bei Bewußtsein, und seine emotionale Ausstrahlung ist typisch für ein Lebewesen, das kurz vorm Tod steht. Sie sehen dasselbe wie wir, Freundin Murchison. Uns bleibt keine Zeit, um mit Creethars Freunden zu diskutieren, und vorläufig müssen wir es riskieren, ohne ihre Erlaubnis zu handeln.
Danalta, Naydrad!“ fuhr er mit forscher Stimme fort. „Dehnen Sie das Schwerkraftkompensationsfeld aus, heben Sie Creethar sanft auf den Krankentransporter und erschüttern Sie seine Gliedmaßen dabei so wenig wie möglich. Wir wollen diese Frakturen ja nicht noch komplizierter machen. Sachte, ja, so ist’s gut. Jetzt schließen Sie das Kabinendach, erhöhen Sie die Innentemperatur um zehn Grad, und schalten Sie die Atmosphäre auf reinen Sauerstoff um. In fünf Minuten müßten wir wieder auf der Rhabwar sein.“
„In Ordnung“, bestätigte Murchison. „Die Instrumente für die orthopädische Behandlung und die innere Untersuchung sind bereit. Aber. aber dieser Patient ist ja völlig ausgemergelt und total ausgetrocknet. Zusätzlich zum Trauma steht er auch noch kurz davor, schlicht und ergreifend zu verhungern. Verdammt noch mal, die Behandlungsart der Wemarer ist gefühllos, ja, sogar grausam. Haben die noch nie was davon gehört, einen Bruch mit Schienen ruhigzustellen? Kümmern sich diese Leute überhaupt um ihre Verletzten?“
Gurronsevas wußte zwar, daß er kein Recht hatte, sich in eine medizinische Besprechung einzumischen, doch die Äußerungen der Pathologin hatten ihn erzürnt. Es war, als wäre er gezwungen, dabei zuzuhören, wie man einen Freund zu Unrecht kritisierte. Diese Empfindung überraschte ihn, aber sie war vorhanden, und zwar in aller Stärke.
„Die Wemarer sind weder grausam noch gleichgültig“, protestierte er. „Über diesen Punkt habe ich mich mit Remrath oft unterhalten. Wie er mir erklärt hat, besteht der medizinische Beruf auf Wemar lediglich aus praktischen Ärzten, sogenannten Kochheilern und Naturheilkundigen, und das war’s. Chirurgen, wie wir sie kennen, gibt es hier nicht. Remrath glaubt zwar, daß es diesen Beruf in längst vergangenen Zeiten einmal gegeben hat, aber das Fachwissen ist längst verlorengegangen. Heutzutage kann selbst eine einfache Verletzung zum Tod oder zum langen, schmerzerfüllten Leben eines Krüppels führen, das sowohl für den Invaliden und diejenigen, die ihn pflegen müssen, eine Last ist, als auch eine ständige Belastung für die Versorgung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe mit Nahrung darstellt. Da das so ist, verschwenden die Jäger kein Essen an einen Freund, der bald sterben wird, und das würde Creethar auch gar nicht wollen.
Grausam ist nur der Planet Wemar, nicht die Wemarer selbst.“
Bis auf ein leises Seufzen, das Gurronsevas als das Geräusch erkannte, das Terrestrier von sich geben, wenn sie ruckartig ausatmen, herrschte einen Moment lang Schweigen. Dann meldete sich erneut Murchison zu Wort: „Entschuldigung, Gurronsevas, ich habe viele Ihrer Gespräche mit Remrath verfolgt, aber das, was Sie gerade gesagt haben, muß ich verpaßt haben. Sie haben recht. Doch es ärgert mich einfach, wenn einem Verletzten lange Zeit starke Beschwerden bereitet werden.“
„Creethars Beschwerden werden wir bald gelindert haben, meine Freundin“, meinte Prilicla. „Halten Sie sich bitte bereit.“
Plötzlich erhob sich der kleine Empath hoch in die Luft, wobei er von seinem G-Gürtel unterstützt wurde, den er auf die cinrusskische Anziehungskraft von einem Achtel Ge eingestellt hatte. Seine langsam schlagenden schillernden Flügel brachen und reflektierten die Sonnenstrahlen wie ein großes, bewegliches Prisma. Schlagartig verstummten die Streitgespräche rings um Remrath, als die Jäger nach oben blickten, um diesen merkwürdigen Fremdweltler zu beobachten, der sie mit seiner Schönheit buchstäblich blendete, und sich die Augen mit den freien Händen beschatteten, da sich Prilicla langsam auf einer Bahn zwischen ihnen und der Sonne bewegte. Wie Gurronsevas vermutete, hatte der Cinrussker seine Höhe und Position so gewählt, um einen gezielten Einsatz der Waffen zu erschweren. Als den Zuschauern endlich klar wurde, was dort vor sich ging, war es für sie bereits zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen. Danalta, Naydrad und der Transporter mit Creethar befanden sich schon auf halbem Weg zum Schiff.