Bevor er darauf etwas entgegnete, drehte Gurronsevas ein Auge zum Sichtfenster. Das Tal war immer noch in Dunkelheit gehüllt, doch die Berghänge zeichneten sich bereits gegen den grauen Schimmer der frühen Morgendämmerung ab.
„Für Farben, Formen und Gerüche — wie auch für Erklärungen — habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis“, verkündete er. „Wenn es eilt, brauche ich nicht erst noch mal mit Remrath zu sprechen. Ich werde gleich losgehen und die notwendigen Krauter und Moose sammeln. Am wirkungsvollsten sind sie, wenn man sie früh am Morgen pflückt.“
30. Kapitel
Die nächsten vier Tage versorgte Gurronsevas das medizinische Team je nach Bedarf mit frischen Krautern und teilte ihm auch die Gebrauchsanweisungen des Chefkochs mit, verbrachte jedoch weiterhin so viel Zeit wie möglich in der Küche der Mine.
Dafür hatte er sowohl positive als auch negative Gründe.
Wann immer er sich auf dem Unfalldeck aufhielt, lamentierten Murchison, Danalta und Naydrad darüber, welche moralischen Auswirkungen es hatte, wenn ein Laie die Methode der medizinischen Behandlung eines Patienten vorschrieb, und bei wem die Verantwortung für Creethars Behandlung in Wirklichkeit lag. Zwar machte ihm niemand direkte Vorwürfe, aber Gurronsevas wußte nicht, wie er auf die unausgesprochene Kritik reagieren sollte, und fühlte sich durch sie sehr verunsichert, wenngleich er die Meinung, die andere über ihn hatten, normalerweise nicht für wichtig hielt. Seit er die Arbeit in den Küchenräumen des Cromingan-Shesk aufgegeben hatte, in denen er über die absolute Macht verfügt hatte, war sein Selbstbewußtsein ständigen und erfolgreichen Angriffen ausgesetzt gewesen. Das war kein schönes Gefühl.
Prilicla, der Gurronsevas’ Empfindungen kannte, ihm aber nicht helfen konnte, wartete, bis die anderen Mitglieder des medizinischen Teams entweder gerade außer Dienst oder zu beschäftigt waren, um zuzuhören, bevor er den Tralthaner beiseite nahm, damit sie sich ungestört unterhalten konnten.
„Ich verstehe Ihre Verärgerung und Unsicherheit, mein Freund, und kann diese Empfindungen gut nachvollziehen“:, sagte der Empath, wobei die leisen, melodischen Triller und Schnalzlaute seiner Muttersprache durch die Übersetzung in Gurronsevas’ Kopfhörer kaum vernehmbar waren. „Aber Sie müssen auch die Gefühle der Mitglieder des medizinischen Teams verstehen. Trotz der Äußerungen, die Sie gehört haben, kritisieren Murchison, Naydrad und Danalta eigentlich nicht Sie, sondern ärgern sich vielmehr über die eigene berufliche Unzulänglichkeit und den Umstand, daß ein bloßer Koch — entschuldigen Sie den Ausdruck, mein Freund, wenn sich die drei Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wird denen schnell klar werden, daß Sie viel mehr sind als ein bloßer Koch—, daß also ein bloßer Koch imstande ist, dem Patienten auf eine Weise zu helfen, die für sie selbst nicht möglich ist. Murchison, Naydrad und Danalta können ihre Gefühle genausowenig unterdrücken wie Sie Ihre eigenen, mein Freund, aber ich werde es den dreien mal vorsichtig nahelegen, es wenigstens zu unterlassen, sie Ihnen gegenüber zu zeigen. Üben Sie bitte Nachsicht, bis Creethars Probleme behoben sind. Von dem Chefdiätisten, der vor ein paar Monaten am Hospital angefangen hat, hätte ich das nicht verlangen können. Sie haben sich verändert, mein Freund, und zwar zum Besseren.“
Wie Gurronsevas wußte, lagen seine verwirrten Gefühle für Prilicla offen, und deshalb sagte er nichts.
„Für Sie wäre es vorerst angenehmer, so viel Zeit wie möglich mit Freund Remrath in der Mine zu verbringen“, riet ihm der Empath zum Schluß.
Im nachhinein war das gar nicht so einfach, wie es zuerst erschien. Aus einem unerfindlichen Grund verhielten sich Remrath und in geringerem Maße auch die anderen Mitarbeiter in der Küche sowie die Lehrer ihm gegenüber zunehmend unfreundlich. Und Prilicla war zu weit entfernt, um die feinen Veränderungen in der emotionalen Ausstrahlung der Wemarer wahrzunehmen und zu deuten, woraus Gurronsevas hätte Rückschlüsse ziehen können, was er Falsches gesagt oder getan hatte.
Zum Glück teilten die jungen Wemarer nicht die Gefühle ihrer Eltern und blieben weiterhin höflich, respektvoll und neugierig. Zudem wurden sie durch Spekulationen darüber, welche seltsamen kulinarischen Wunder der fremdweltlerische Koch als nächstes vorzuschlagen gedachte, in ständiger Aufregung gehalten. Selbst die inzwischen zurückgekehrten Jäger probierten seine neuen Gerichte mit immer geringerem Widerwillen, auch wenn sie als standhafte Traditionalisten hartnäckig dabei blieben, daß Fleisch die einzig geeignete Nahrung für einen Erwachsenen sei und sie auch weiterhin Fleisch essen würden.
Angesichts der erbärmlich geringen Menge, die sie von der Jagd mitgebracht hatten — bei sorgfältiger Rationierung würde kaum genügend vorhanden sein, um dem üblichen Gemüseeintopf der Wemarer ein paar Wochen lang auch nur einen leichten Fleischgeschmack zu verleihen — mußte das persönliche Schamgefühl der Jäger genauso groß wie ihr Hunger sein. Gurronsevas brach keinen offenen Streit mit ihnen vom Zaun und zog es lieber vor, deren ungebildete Gaumen zu schulen und dazu zu verlocken, neue Geschmackserlebnisse auszuprobieren, und er bemühte sich ganz allgemein, die Herzen der Wemarer mit einem Angriff von der Seite auf ihre Mägen zu erobern. Die scheinbare Niederlage in einer einzelnen Schlacht wog nicht schwer, da Gurronsevas wußte, daß er den Krieg gewinnen würde.
Doch schließlich zeigten auch die Jäger Anzeichen dafür, daß sie sich aus Gründen, die für Gurronsevas nicht ersichtlich waren, gegen ihn wandten. Im Gegensatz zu Remrath und den Lehrern waren sie in seiner Gegenwart zwar nie freundlich oder entspannt gewesen, doch sie hatten sich überraschend gut auf die Anwesenheit eines Fremdweltlers in ihrer Mitte eingestellt. In den letzten Tagen war ihr Verhalten gegenüber Gurronsevas allerdings fast in Feindseligkeit umgeschlagen. In seiner Nähe zog sich das Schweigen der erwachsenen Wemarer derart in die Länge, daß der Versuch des Tralthaners, mit einer einfachen Frage ein Gespräch anzuknüpfen, nur zu einer äußerst knappen und widerwilligen Antwort führte, und das in einem Ton, bei dem das fließende Wasser in der Küche eigentlich zu Eis hätte gefrieren müssen. Den Grund für ihre Verhaltensänderung konnte er nicht einmal erahnen, und langsam ärgerte er sich darüber. Unter den gegenwärtigen Umständen hielt er es für besser, die in Erstkontaktsituationen üblichen Höflichkeiten zu vergessen und eine einfache, direkte Frage zu stellen.
„Remrath, warum sind Sie auf mich böse?“ erkundigte er sich deshalb ohne Umschweife.
Nach etlichen Minuten ohne Antwort kam Gurronsevas zu dem Schluß,
daß Remrath die Frage ignorierte. Er wandte sich wieder der Vorbereitung der alternativen Hauptmahlzeit des Tages zu, die zu den von ihm ersonnenen Gerichten gehörte, die ausschließlich aus Wurzeln und Blattgemüse von Wemar bestanden. Diese Gerichte verfeinerte er mit einer Soße, die eine winzige Spur des einheimischen Gewürzkrauts Shushlish enthielt, das ein leichtes Brennen auf der Zunge verursachte und über den Geruchssinn eine freudige Erwartung weiterer Genüsse hervorrief. Wie er aus Erfahrung wußte, würden sich die meisten Erwachsenen und alle Kinder für dieses Gericht entscheiden und nur einige wenige hartnäckige Jäger den heimischen Gemüseeintopf mit dem extrem schwachen Fleischgeschmack vorziehen. Doch wie ihm Remrath mitgeteilt hatte, war das nur gut so, denn der Rest der Jagdbeute, der im kalten, fließenden Gebirgswasser frisch gehalten wurde, wog weniger als zwei Pfund und reichte um so länger, je weniger davon verlangt wurde.
Als Gurronsevas das Gericht fertig zubereitet hatte, trat er beiseite, um den vier anzulernenden Jungköchen, die in dieser Schicht arbeiteten, Platz zu machen. Schnell kamen sie heran, um das Essen aus dem Topf auf Teller zu füllen und nach Gurronsevas’ Vorbild anzurichten. Dann stellten sie die Portionen in die von dem Tralthaner neu eingeführten Warmhaltefächer, wo sie bis zum Servieren stehenblieben. Einer der vier, ein Jugendlicher namens Evemth, wie Gurronsevas glaubte, obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, die fast geschlechtsreifen Wemarer auseinanderzuhalten, hatte das Essen ein wenig anders angerichtet, indem er ein paar kleine Zweige Driss auf die Shushlishsoße gestreut hatte. Für den Gesamtgeschmack hatte das alles andere als katastrophale Auswirkungen, und es verlieh dem Gericht einen zusätzlichen optischen Reiz. Die Abwandlung hatte Evemth nur an einer Portion vorgenommen, vermutlich seiner eigenen.