Es hatte Zeiten gegeben, in denen Gurronsevas einem Untergebenen, der es gewagt hätte, dergleichen ohne Erlaubnis zu tun, aufs Dach gestiegen wäre, und sei es nur, um dem Übeltäter zu zeigen, daß der Meister so wachsam war, selbst die kleinste Veränderung an einer seiner Kreationen auf der Stelle zu bemerken. Doch dieser junge Wemarer bewies in bezug aufs Essen Eigeninitiative und Phantasie und fing an, sich selbst Gedanken zu machen und herumzuexperimentieren. Evemth — falls es wirklich Evemth war — berechtigte zu den besten Hoffnungen.
„Ich bin Ihnen nicht böse“, antwortete Remrath völlig unverhofft.
Und zwei mal zwei ist neuerdings fiinf, dachte Gurronsevas. Doch jetzt war nicht der Moment, um einen Streit anzufangen. Er spürte, daß Remrath noch mehr zu sagen hatte und schwieg.
„Trotz Ihres grauenerregenden Aussehens fühlen wir uns in Ihrer Nähe allmählich wohl — und das ist in für uns überraschend kurzer Zeit so gekommen“, fuhr Remrath fort. „Sie haben sich unseren Respekt erworben, aus dem — zumindest bei einem von uns — sogar Freundschaft geworden ist. Doch über die Bewahrer Creethars auf dem Schiff sind wir sehr verärgert und enttäuscht, und da Sie zu den Fremdweltlern gehören, fällt ein Teil unserer Wut auch auf Sie.“
„Ich verstehe“, sagte Gurronsevas.
Wie er wußte, wurden zwar sämtliche Gespräche, die er in der Mine führte, auf der Rhabwar und der Tremaar verfolgt, doch seit vielen Tagen war ihm das große Kompliment widerfahren, ihm nicht ständig die Fragen und Antworten vorzuschreiben. Allerdings gab es Momente — so wie diesen—, in denen Gurronsevas mit Vergnügen sowohl auf dieses Kompliment als auch auf die Verantwortung verzichtet hätte.
„Aber die Bewahrer Creethars wollen den Wemarern genau wie ich bloß helfen. Das müssen Sie alle wissen und mir glauben. Weshalb sind Sie jetzt so wütend auf die? Und was muß ich tun, um Ihre Freundschaft wiederzugewinnen?“
Mit der ärgerlichen, ungeduldigen Stimme von jemandem, der zu einem unwissenden Kind spricht, antwortete Remrath: „Die lassen Creethar immer noch nicht zu uns zurückkehren.“
Gurronsevas war erleichtert. Offenbar gab es für beide Probleme eine einzige Lösung, nämlich die schleunige Rückkehr des schwer verwundeten Anführers der Jäger. „Ihr Sohn wird so bald wie möglich zu Ihnen zurückkehren“, versicherte Gurronsevas dem Chefkoch mit sorgfältig gewählten Worten. „Da ich selbst kein Arzt und Bewahrer bin, kann ich Ihnen nicht genau sagen, wie lange Sie warten müssen. Ich werde die Ärzte um eine möglichst genaue Schätzung bitten. Oder Sie gehen aufs Schiff und sehen sich selbst an, was dort mit Creethar geschieht. Fragen Sie die Ärzte, was Sie wollen.“
„Nein!“ lehnte Remrath den Vorschlag, Creethar zu besuchen, in ebenso scharfem Ton ab wie schon zuvor. Zornig fuhr er fort: „Sie sind sehr gefühllos, Gurronsevas. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber allmählich habe ich den Verdacht, daß Sie und auch die anderen Fremd weltler aus purem Eigennutz zutiefst unehrlich sind. Ich möchte, daß Sie mich vom Gegenteil überzeugen, und bis dahin werden wir nicht mehr miteinander sprechen. Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, und richten Sie Ihren Freunden aus, sie sollen uns auf der Stelle Creethar übergeben!“
Mit der Erinnerung an das letzte Gespräch mit Pricicla machte sich Gurronsevas zur Rhabwar auf und fragte sich, ob es überhaupt noch irgendwo jemanden gab, der mit ihm Zusammensein wollte. Falls Creethar noch lebte, würde er sich hoffentlich mit ihm unterhalten können, um ihm das merkwürdige Verhalten Remraths und der anderen zu erklären. Rätsel und unbeantwortete Fragen waren wie Abfallhaufen, die unordentlich im Kopf herumlagen, und Gurronsevas hatte im Kopf gerne dieselbe Ordnung wie in der Küche. Sobald er wieder an Bord war, bat er Prilicla, ihm zu erlauben, mit Creethar zu sprechen.
„Denselben Vorschlag wollte ich Ihnen auch gerade machen“, antwortete der Empath zu Gurronsevas’ Überraschung. „Aus irgendeinem unersichtlichen Grund verschlechtert sich das Verhältnis zu den Wemarern schneller, als Ihnen klar ist. Wußten Sie, daß die Wemarer den Kontakt zu uns ganz eingestellt und die zurückgelassenen Kommunikatoren ausgeschaltet haben, nachdem sie uns gesagt hatten, Fremdweltler seien in der Mine nicht mehr willkommen? Die einzige Verbindung, die für uns jetzt noch zu den Wemarern besteht, stellt Creethar dar, doch auch er hat wiederholt betont, daß er sich nicht mit Fremdweltlern unterhalten will.“
Prilicla deutete auf Creethars Bett und flog langsam darauf zu. Wie Gurronsevas feststellte, waren keine weiteren Mitglieder des medizinischen Teams anwesend, wahrscheinlich weil Creethar nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, oder weil er strikt gegen ihre Anwesenheit war. Für Gurronsevas war es schön, seine Vermutung bewiesen zu sehen.
„Medizinisch betrachtet macht Freund Creethar sehr gute Fortschritte“, fuhr Prilicla fort. „Seit wir ihn mit den heimischen Medikamenten versorgen, die wir Ihnen verdanken, hat er den kritischen Zustand überwunden und steht vor der Genesung. Seine emotionale Ausstrahlung ist jedoch alles andere als gut. Ich spüre ständig eine tiefe Besorgnis bei ihm, eine Angst, die er zu verbergen und zu unterdrücken versucht. Trotz meiner ständigen Bemühungen, ihn zu beruhigen.“
Wie sich Gurronsevas in Erinnerung rief, war Prilicla nicht nur für Emotionen empfänglich, sondern konnte mit seinen Gefühlen auch auf andere einwirken. Hielt man sich in einem überfüllten Raum auf und war man seelisch nicht stark angespannt, fühlte man sich schon besser, wenn der Empath bloß hereingeflogen kam.
„…weigert er sich, das Problem mit uns zu besprechen“, erklärte Prilicla weiter. „In unserem letzten, sehr kurzen Gespräch hat sich Creethar nach seinem Vater Remrath, nach den Jägern und nach den neuesten Ereignissen in der Mine erkundigt. Das war vor zwei Tagen. Seitdem will er nicht mehr mit uns sprechen oder uns auch nur zuhören, und es hat ihn immer sehr bekümmert, wenn wir versucht haben, seinen Fall in seiner Gegenwart zu besprechen. Dieser Kummer ist so schlimm gewesen, daß ich seinen Translator jedes Mal ausgeschaltet habe, wenn wir mit der Erörterung begonnen haben. Außerdem weigert er sich zu essen. Wir ernähren ihn weiterhin ohne sein Wissen intravenös, doch uns beiden ist klar, daß die schnelle Genesung eines Patienten, der sich auf dem Weg der Besserung befindet, durch die Einnahme fester Nahrung sowohl psychologisch als auch medizinisch vorangetrieben wird. Im vorliegenden Fall ist der Patient durch die Unterernährung so stark geschwächt, daß wir seinen Tod ohne die Aufnahme fester Nahrung nicht mehr lange hinauszögern können.
Doch Sie, mein Freund, haben uns gegenüber viele entscheidende Vorteile“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Bei Begegnungen mit Ihnen ist Creethar immer bewußtlos gewesen. Sie sind kein Arzt und werden deshalb nicht die Versuchung verspüren, den medizinischen Zustand des Patienten in dessen Gegenwart zu erörtern. Vielmehr handelt es sich bei Ihnen um einen Meisterkoch, der vielleicht Creethars Essensvorlieben herausfinden kann, und zu guter Letzt wissen Sie aus erster Hand, was in letzter Zeit in der Mine passiert ist. Darum wäre es mir lieb, wenn Sie so bald wie möglich mit ihm sprechen könnten.“