Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas, dann sagte er: „Sie behaupten, Creethar und ich empfinden freundschaftliche Gefühle füreinander. Aber können Sie mir auch sagen, ob wir gut genug befreundet sind, um uns gegenseitig vaser schlechtes Benehmen, die Beleidigungen oder die unbeabsichtigten verletzenden Worte zu verzeihen?“
Ohne Zögern antwortete der Empath: „Ich kann Ihre Entschlossenheit spüren. Sie werden Creethar über seine Entlassung informieren, egal, was ich antworte. Viel Glück, mein Freund.“
Einen Augenblick lang sagte Gurronsevas nichts und versuchte, Worte zu finden, die passend waren und schon im voraus alles entschuldigten, womit er diesen seltsamen Wemarer, der sein Freund geworden war, möglicherweise verletzte. Dann sagte er: „Es gibt vieles, das ich Ihnen sagen möchte, Creethar, und eine Menge Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde. Das habe ich bisher noch nicht getan, weil Sie jedes Mal, wenn ich es versucht habe, wütend geworden sind und nicht mehr mit mir sprechen wollten. Auch Remrath will kein Wort mehr mit mir wechseln und hat den Fremdweltlern aus Gründen, die wir nicht verstehen, sogar verboten, die Mine noch einmal zu betreten. Doch jetzt bleiben uns nur noch wenige Stunden, um uns zu unterhalten und um uns gegenseitig Fragen zu stellen und Antworten zu geben.“
„Seien Sie vorsichtig“, warnte ihn Prilicla. „Creethars emotionale Ausstrahlung verändert sich, und zwar nicht zum Besseren.“
„Ihre Verletzungen und Infektionen sind geheilt beziehungsweise abgeklungen“, fuhr Gurronsevas vorsichtig fort, „und Ihre körperliche Verfassung ist so gut, wie es in unseren Kräften steht. Sie werden noch vor der Mittagszeit zu Ihren Freunden zurückkehren können.“
Plötzlich warf sich Creethar mit dem Körper gegen die Haltegurte — das hatte er schon seit vielen Tagen nicht mehr getan—, und wurde dann wieder ruhig. Ruckartig wandte er Gurronsevas das Gesicht zu, hielt die Augen dabei jedoch fest geschlossen. Der Tralthaner fragte sich, was für eine dumme fremdenfeindliche Regung oder kulturelle Geisteshaltung eine derart heftige Reaktion in einem Kopf hervorrufen konnte, den er als intelligent und kultiviert kannte und in vieler Hinsicht bewunderte. Er war zwar kein Empath, doch Priliclas nächste Bemerkung bestätigte nur, was er bereits wußte.
„Der Patient ist sehr beunruhigt“, erklärte der Cinrussker in eindringlichem Ton. „Die freundschaftlichen Gefühle, die er Ihnen entgegenbringt, werden durch den Ausbruch eines Gefühlsgemischs aus Angst, Wut und Verzweiflung verdrängt, das Creethar schon vorher einmal zu schaffen gemacht hat. Doch er bemüht sich mit aller Kraft, diese negativen Empfindungen Ihnen gegenüber zu überwinden. Können Sie nicht irgend etwas sagen, das ihm dabei hilft? Seine Anspannung nimmt ständig zu.“
Unhörbar stieß Gurronsevas ein Wort aus, das in den Mund zu nehmen ihm als Kind verboten worden war und das er auch als Erwachsener nur selten gebraucht hatte. Auf die eigentlich gute Nachricht reagierte der Patient völlig verkehrt, und plötzlich war der Tralthaner nicht nur völlig verunsichert, sondern auch wütend darüber, daß er einen Freund quälte, ohne zu wissen wie und weshalb. In jeder anderen Hinsicht verliefen Creethars Gedankengänge und das Gespräch mit ihm ganz normal, doch in dieser einen Beziehung war der Wemarer Gurronsevas vollkommen fremd. Oder waren es die medizinischen Mitarbeiter und sogar er selbst, die in dieser Hinsicht etwas Fremdes an sich hatten? Und wenn ja, warum?
Er übersah etwas, dessen war er sich ganz sicher — irgendeinen grundlegenden Unterschied, der sowohl einfach als auch äußerst wichtig war. In den Tiefen seines Gehirns begann ihm eine Ahnung aufzusteigen, doch der Versuch, sie ans Licht zu zerren, schien sie nur wieder weiter zurückzudrängen. Er wollte Prilicla um Rat bitten, doch ihm war klar, daß Creethar denken würde, er habe Geheimnisse vor ihm, wenn er den Translator zu diesem Zweck abschaltete — und das wäre im Moment genau das Falsche gewesen.
Da Gurronsevas nicht wußte, was er sagen sollte, sprach er einfach das aus, was er empfand.
„Creethar“, fuhr er fort, „ich bin verwirrt und habe Schuldgefühle, weil ich Ihnen solche psychischen Qualen bereite. Es tut mir sehr, sehr leid. Irgendwie ist es mir nicht gelungen, Sie zu verstehen. Aber glauben Sie mir bitte, es ist weder jetzt noch früher meine Absicht oder die der anderen auf dem Schiff gewesen, Sie zu verletzen. Trotzdem haben wir und insbesondere ich Ihnen aus Unwissenheit und mangelnder Sensibilität damals wie heute psychischen Kummer bereitet. Kann ich mich dafür irgendwie entschuldigen oder etwas sagen oder tun, um Sie davon zu befreien?“
Creethars Körper spannte sich zwar an, zerrte diesmal aber nicht an den Haltegurten. „Für ein derart furchteinflößendes Lebewesen können Sie in manchen Momenten ganz schön sensibel sein, wenn Sie auch in anderen wieder schrecklich gefühllos sind. Es gibt etwas, das Sie für mich tun können, Gurronsevas, aber ich schäme mich, es auszusprechen. Der Gefallen gehört nicht zu denen, um die man einen Verwandten oder einen engen Freund bittet, ja nicht einmal einen außerplanetarischen Freund wie Sie, denn er wäre für den Betreffenden zu bedrückend.“
„Nennen Sie ihn mir, mein Freund, und ich werde Ihnen den Gefallen tun“, versprach Gurronsevas in bestimmtem Ton.
„Wenn. wenn meine Zeit kommt“, sagte Creethar mit kaum vernehmbarer Stimme, „würden Sie mir dann weiterhin von den Wundern erzählen, die Sie auf anderen Planeten gesehen haben, und bis zum Ende bei mir bleiben?“
Die kurze Stille, die sich nun anschloß, wurde von Prilicla unterbrochen. „Gurronsevas, warum sind Sie so. so froh?“ fragte er.
„Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit, um mich mit Creethar zu unterhalten“, bat Gurronsevas. „Dann werden Creethar und Sie alle ebenfalls froh sein.“
32. Kapitel
Da man das Sonnenverdeck des Krankentransporters, in dem Creethar lag, ganz geschlossen hatte, war der Anführer der Jäger allen Blicken entzogen. Als Prilicla gesagt hatte, es sei nur angemessen, wenn Gurronsevas und niemand sonst Creethar zum Mineneingang begleite, waren einzig von Naydrad Einwände gekommen, die der Gedanke beunruhigt hatte, ein Fahrzeug mit Schwerkraftneutralisatoren von einem ungeübten Fahrer lenken zu lassen.
Zu Tawsar, den zurückgekehrten Jägern und sämtlichen Lehrerinnen und Lehrern, mit Ausnahme von Remrath, hatten sich die Arbeitsgruppen der jungen Wemarer gesellt, so daß der Hang vor dem Mineneingang bis auf einen kleinen Bereich vor der Menge, wo drei kleine Handkarren standen, von dicht gedrängten Körpern bedeckt war. Langsam und geräuschlos fuhr Gurronsevas mit dem Transporter bis auf wenige Meter an die Karren heran und verringerte dann die Energiezufuihr zu den Schwerkraftgittern. Während der Transporter auf den Boden sank, öffnete er das Verdeck, um Creethar den Blicken der Anwesenden freizugeben.
Die versammelten Wemarer waren, dem Anlaß entsprechend, still und respektvoll und ließen ihre Gefühle gegenüber den Fremdweltlern nicht erkennen. Selbst die kleinsten Kinder blieben stumm, als die Menge auf die reglose Gestalt des einstigen Anführers der Jäger starrte, dessen Körper sauber und bis auf das rechte Bein, das in einem durchsichtigen Verband steckte, unverletzt war. Doch als Creethar plötzlich den Kopf hob und aus dem Transporter stieg, übertraf die Reaktion der Wemarer, die in lautes Schreien und Kreischen ausbrachen und wie wild durcheinanderrannten, alles, was Gurronsevas bisher erlebt hatte. Er fragte sich, wie sich dieser Sturm emotionaler Ausstrahlung wohl auf Prilicla an Bord der Rhabwar auswirkte.
Doch der Empath hatte in seiner sanften Weise nachdrücklich betont, daß nach dem langen Gespräch, das sie mit Creethar vor dessen Entlassung geführt hatten, keine Gefahr mehr bestünde. Der zu erwartende Gefühlssturm würde sich, so hatte Prilicla geglaubt, aus Erschrecken, Überraschung und Unsicherheit mit einem Minimum an Feindseligkeit zusammensetzen. Schließlich war es Creethars eigene Idee gewesen, seinem Volk die Tatsachen bis zum letztmöglichen Moment zu verheimlichen, damit seine Heimkehr die größte Wirkung erzielte.