Aber der Hai tat viele Dinge, die andere nicht verstanden.
Der Erfolg gab ihm recht. Durch Betrug - er war davon überzeugt, daß der Hai damals beim Monte-Spiel betrogen hatte, wenn er auch nicht herausgefunden hatte, auf welche Weise - und Erpressung hatte er schließlich auch das Golden Crown in seinen Besitz gebracht und Henry Black zu seinem Vasallen gemacht.
Nach einem letzten Blick in einen der großen Spiegel, bei dem sich Black durch das Betrachten seiner ganzen beeindruckenden Gestalt vergeblich Mut und Selbstvertrauen zu geben hoffte, ging er endgültig weiter. Er hörte nur noch Bruchstücke von Susu Wangs chinesischer Version des romantischen Liedes Barbara Allen.
Black hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, hinter der der Hai saß wie die Spinne im Netz und alle Fäden zog, und doch wurde sie schon wie von Geisterhand geöffnet. Aber der wuchtige Mann zuckte nicht zurück wie früher. Er war daran gewöhnt, daß der Hai alles wußte, konnte er auch nicht sehen oder hören, was außerhalb seiner Suite, die zugleich Wohnung und Büro war, vor sich ging.
Es war natürlich keine Geisterhand, sondern die außen tiefschwarze und innen helle Pranke des hünenhaften Leibwächters namens Buster. Der kahlköpfige Schwarze, der niemals zu sprechen schien (Black wußte nicht, ob er es nicht konnte oder nur nicht wollte), war der einzige Mensch, den der Hai ständig in seiner Nähe duldete. In seiner Begleitung war der Hai damals schon im Golden Crown aufgetaucht.
Anders wäre es dem geheimnisumwitterten Mann auch kaum möglich gewesen. Ohne fremde Hilfe konnte der Hai nur mühsam gehen.
Innerlich kicherte Henry Black. Eine Menge Leute in San Francisco hätten sich ganz schön gewundert, hätten sie gewußt, daß der Mann, den sie mehr fürchteten als Satan persönlich, ein Krüppel war!
»Was belustigt Sie so, Henry? Haben Sie ausnahmsweise einmal gute Nachrichten für mich?«
Es war die schneidende Stimme des Hais. Sie wirkte selbst dann bedrohlich, wenn die Worte vordergründig freundlich klangen.
Der gutaussehende Mittdreißiger saß in einem ledergepolsterten Drehstuhl hinter dem großen Schreibtisch und starrte Black durchdringend an. So sah man dem Hai nicht an, daß er ein Krüppel war. Aber dem aufmerksamen Beobachter konnten die Lederschlingen nicht entgehen, die überall in dem großen und luxuriös eingerichteten Raum von der Decke hingen. An ihnen konnte der wahre Herrscher über das Golden Crown und über halb Frisco sich festhalten, wenn er aufstehen und sich aus eigener Kraft fortbewegen wollte.
Black biß auf seine Unterlippe. Verflucht, konnte der Hai tatsächlich Gedanken lesen, wie es manche behaupteten? Oder hatte Black nicht nur innerlich gekichert, sondern, wenn auch unwissentlich, für den Hai erkennbar? Ja, so mußte es sein. Niemand konnte Gedanken lesen!
Als Buster die Tür hinter ihm wieder schloß, trat Black zögernd an den Schreibtisch heran und sagte:
»Ganz so gut sind meine Nachrichten nicht. Immerhin glaube ich zu wissen, weshalb die Feuerwehr letzte Nacht so schnell in Chinatown gewesen ist.«
»So?« Der Mann hinter dem Schreibtisch beugte sich gespannt über die mit Papieren bedeckte Platte. Jetzt wirkte er tatsächlich wie ein Haifisch, der sich auf den Angriff vorbereitete. »Erzählen Sie es mir doch, Henry.«
»Nun, ich habe läuten hören, daß jemand der Feuerwehr einen Hinweis gegeben hat. Mitten in der Nacht, so daß ein Teil der Kompanien schon nach Chinatown unterwegs war, als der Brand - ähem - ausbrach.«
»So etwas hatte ich mir schon gedacht«, knurrte der Hai und stützte das eingekerbte Kinn auf den Handrücken. »Aber wer ist der Verräter?«
»Das weiß ich leider nicht... noch nicht.«
»Aber das ist das Wichtigste!«
Das eingekerbte Kinn ruckte hoch. Die Hand ballte sich zur Faust und krachte auf die Tischplatte.
»Wir können zukünftigen Verrat nur unterbinden, wenn wir den Verräter kennen«, zischte der Hai. »Ich habe Ihre Pannen allmählich satt, Henry. Erst die Sache mit Jacob Adler und nun das! Chinatown sollte in der letzten Nacht bis auf das letzte Haus abbrennen. Aber was ist statt dessen geschehen? Ein paar Lagerhäuser, die meisten leerstehend, und ein paar unwichtige Handwerksbuden wurden vernichtet. Mehr nicht!«
»Das. das ist nicht meine Schuld! Wir konnten doch nicht wissen, daß die Feuerwehr schon unterwegs war. Außerdem war ich gar nicht vor Ort. Bremer hat die Aktion geleitet!«
»Louis Bremer, ja.« Der Hai nickte wissend, aber nicht zufrieden. »Derselbe Mann, der schon die Sache mit Adler verbockt hat. Wie konnten Sie ihm so eine wichtige Aufgabe wie die Sache in Chinatown übertragen, Henry?«
»Sonst hat Bremer immer gute Arbeit geleistet.«
Black zog ein spitzenbesetztes weißes Taschentusch aus einer Jackentasche und wischte den Schweiß ab, der in dicken Perlen sein ganzes breites Gesicht bedeckte. Sogar in seinem Backenbart glitzerte er.
Angstschweiß.
Ja, Black hatte eine Heidenangst - Angst vor dem Hai!
Er steckte das zerknüllte, feuchte Tuch wieder ein und sagte:
»Ich habe noch eine Nachricht, die wird Sie interessieren. Vor kurzem sind drei Kriegsschiffe in die Bucht gekommen, die GENERAL STEUBEN, die RELIANCE und die HORNET.«
»Und?«
»Sie hatten Überlebende an Bord. Überlebende eines Schiffsunglücks.«
»Um welches Schiff handelt es sich?« fragte der Hai, der immer noch nicht verstand.
Henry Black fühlte so etwas wie einen kleinen Triumph. Auch der gefürchtete Hai von Frisco war nicht allwissend. Das beruhigte ihn etwas.
»Es waren gleich zwei Schiffe«, sagte er. »Das stählerne Monster hat die ALBANY versenkt. Übrigens soll das Monster ein konföderiertes Fischboot gewesen und ebenfalls gesunken sein.«
»Ein Fischboot, so.« Der Mann hinter dem Schreibtisch nickte leicht und wirkte interessiert. »So etwas könnte ich auch gebrauchen. Unsichtbar und gefährlich!«
Seine Augen richteten sich wieder auf Black, und er fragte:
»Wieso erzählen Sie mir das, Henry? Was gehen mich die ALBANY und das Fischboot an?«
»Als ich vorhin von einem zweiten Schiff sprach, das gesunken ist, meinte ich nicht das Fischboot, sondern die LUCIFER.«
»Die LUCIFER?«
Jetzt war der Hai wirklich interessiert.
Brennend!
Die glühenden Augen, die unverwandt auf Black gerichtet waren, verrieten es.
»Jacob Adler war an Bord der LUCIFER«, meinte der Hai. »Ist er unter den Geretteten?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe Bremer zum Hafen geschickt, um es herauszufinden. Wir sollten Bremer diese Chance geben, finde ich.«
»Ja, ich gebe Bremer diese Chance«, sagte der Hai unerwartet scharf. »Und ich gebe Sie Ihnen, Henry. Ab jetzt keine Fehler mehr! Finden Sie heraus, ob Adler noch lebt. Und wenn es so ist, will ich ihn haben!«
»Gut.« Black nickte eifrig. »Gibt es sonst noch was?«
»Natürlich! Den Verräter. Ihn will ich auch haben. Finden Sie ihn, Henry, und zwar schnell! Ich an Ihrer Stelle würde mich mal unter den Chinesen umhören, die für uns arbeiten.«
»Habe ich schon getan, aber noch keine undichte Stelle entdeckt. Vielleicht sollte ich mal die kleine Susu fragen.«
»Susu?« Die Augen des Hais verengten sich. »Was hat sie damit zu tun?«
»Na, sie ist doch überall sehr beliebt, gerade unter den Langzöpfen. Wenn sich der chinesische Engel für uns umhört, bringt das vielleicht mehr, als wenn ich gleich die harte Tour reite.«
»Ja«, meinte der Hai gedehnt. »Das wäre möglich. Also, tun Sie, was Sie für nötig halten. Aber tun Sie das Richtige, Henry!«
Buster öffnete die Tür, das Zeichen für Henry Blacks Abgang. Der stumme Schwarze schien stets zu wissen, was sein Herr und Gebieter von ihm wollte, auch wenn der Hai nichts sagte. Sie verständigten sich durch winzige Zeichen.