Black nahm an, daß sie es auch so gemacht hatten, als sie ihn am Spieltisch um seinen Vergnügungspalast brachten. Wahrscheinlich hatte Buster dem Hai Zeichen gegeben. Wenn Black auch schleierhaft war, woher der Schwarze die Karten gekannt haben sollte.
Der massige Mann war froh, als sich die Tür wieder hinter ihm schloß. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb er stehen und wischte noch einmal den Schweiß von Gesicht und Stirn. Das Tuch konnte man auswringen.
An mehreren Spiegeln vorbei ging er die Treppe hinunter. Susu Wangs Engelsstimme wurde lauter. Sie sang Buffalo Gals. Der Gesang beruhigte Henry Black ein wenig. Genauso wie jeder Schritt auf der Treppe, der den Abstand zwischen ihm und dem Hai vergrößerte.
*
Der Mann, den alle nur den Hai von Frisco nannten, warf seinem schwarzen Leibwächter einen auffordernden Blick zu.
Der wußte sofort, was gemeint war, setzte sich in Bewegung und zog im hinteren Teil des großen Büros an einer unscheinbaren Kordel, die, wie die Lederschlingen, von der Decke herabhing. Ein großer dunkler Vorhang glitt mit leisem Rauschen zur Seite und gab den Blick auf eine Vielzahl von Spiegeln frei, die in mehreren Reihen über- und nebeneinander angeordnet waren. Meistens waren die Spiegel sichtbar. Nur wenn ein Fremder das Büro betrat, zog Buster den Vorhang zu.
Der Hai schwenkte in seinem komfortablen Drehstuhl herum und betrachtete die Spiegelreihen. Jeder der Spiegel mit der Größe eines kleinen Tabletts zeigte einen anderen Teil des Golden Crown: die Empfangshalle des Hotels; den Spielsalon; den Saloon mit der langen Theke; das Theater, auf dessen mit einem asiatisch gestalteten Bühnenbild versehener Bühne die liebliche Susu Wang stand und - für die Betrachter hier oben leider stumm - ein offenbar lustiges Lied zum besten gab. Vielleicht war es Golden Slippers, dachte der Hai, oder California Stage. Er malte sich aus, wie diese beliebten Lieder auf Chinesisch klangen.
Die Spiegel hier oben waren nur ein Teil des ausgeklügelten Systems, das er ins Golden Crown hatte einbauen lassen, um alles unter Kontrolle zu haben. Sie ersetzten die Beine, die ihm den Dienst versagten. Die scheinbar nur aus Prunksucht oder zur Ausschmückung angebrachten großen und kleinen Spiegel überall in dem riesigen Haus warfen die Bilder, die sie auffingen, auf kleine versteckte Spiegel. Durch regelrechte Spiegelkanäle wurden alle Bilder bis nach hier oben geleitet, wo sie dem Hai den ständigen Überblick über das Golden Crown ermöglichten. Wenn auch die Bilder zum Teil verzerrt waren, unscharf, so genügten sie, ihn über das auf dem laufenden zu halten, was in seinem Hauptquartier vor sich ging.
Schon in New York hatte ihm ein ebenso einfallsreicher wie chronischer geldknapper Erfinder das Überwachungssystem angeboten. Für ein paar lumpige Dollars hatte er dem Erfinder die Pläne abgekauft, sie aber niemals verwirklicht. Er hielt die Sache für eine witzige Spielerei, aber letztlich überflüssig.
Hier in San Francisco hatte er sich daran erinnert und die Pläne aus der Erinnerung rekonstruiert. Plötzlich war das, was dem gesunden Mann als nutzlose Spielerei erschienen war, dem verkrüppelten eine wertvolle Hilfe geworden. Tag und Nacht hatten Schreiner und Glaser nach seinen Anweisungen gearbeitet. Er hatte sie gut bezahlt und einige von ihnen, die zuviel über ihn und das Spiegelsystem wußten, nach getaner Arbeit auf ganz besondere Weise entlohnt: Der Hai von Frisco hatte sie im Pazifik versenken lassen, wo sich andere Haie mit ihnen beschäftigen konnten.
Die Überwachungsspiegel waren nicht unwesentlich für den unheimlichen Nimbus verantwortlich, der den Hai von Frisco umgab. Er wußte viele Dinge, die vorgeblich im verborgenen geschahen, weil er sie sah. Aber die Menschen, die für ihn arbeiteten, wußten das nicht und schrieben ihm übernatürliche Fähigkeiten zu. Die Gerüchte wurden auch außerhalb des Golden Crown verbreitet. Und es war wie mit allen Gerüchten: Je mehr Münder sie durchliefen, desto weniger hatten sie mit der Wirklichkeit zu tun.
Ihm war das nur recht. Je mehr ihn die Menschen fürchteten, desto leichteres Spiel hatte er mit ihnen.
Einer der Spiegel zeigte von schräg oben die Treppen, die Henry Black eilig hinabstieg. Zu eilig, wie der Hai fand.
Das war nicht mehr nur die Eile eines Mannes, der viel zu erledigen hatte. Die Hastigkeit der Bewegungen verriet die Angst, die dem ehemaligen Besitzer des Golden Crown im Nacken saß.
»Noch funktioniert Black«, sagte der Mann im Drehstuhl halblaut. »Aber er läßt nach. Zu viele Fehler in letzter Zeit. Was meinst du, Buster, sollten wir unserem wohlbeleibten Freund ein Salzwasserbad verschaffen?«
Der Stuhl schwenkte herum, und der Hai blickte seinen Leibwächter an.
Der knochige Schwarze im edlen Anzug streckte die rechte Hand vor, den dunklen Rücken nach oben haltend, und wackelte damit leicht hin und her.
»Du hast recht, Buster. Warten wir noch eine Weile. Vielleicht finden wir eine bessere Verwendung für Henry Black. Könnte sein, daß wir einen Sündenbock brauchen, wenn Chinatown tatsächlich brennt.«
Der Hai stieß ein heiseres Lachen aus, und Buster erlaubte seinem sonst so maskenhaften Gesicht den Anflug eines Grinsens.
*
Unten auf der Treppe wurde Henry Black plötzlich von einem unerklärlichen Schauer überfallen. Wie ein kalter Luftzug, der durch ein offenes Fenster hereinwehte.
Aber hier im Treppenhaus gab es kein Fenster, weder ein offenes noch ein geschlossenes. Nur jede Menge Spiegel wie überall im Golden Crown.
Seltsam: Obwohl niemand sonst hier war, fühlte er sich beobachtet. Als besäßen seine Spiegelbilder ein Eigenleben und hätten beschlossen, ihr dreidimensionales Original zu überwachen.
Die Spiegel waren ihm unheimlich. So wie der verkrüppelte Mann dort oben, dessen Handlanger Black war. Gewiß, es ging Black nicht schlecht dabei. Er verdiente durch die dunklen Geschäfte des Hais mehr als durch seine eigenen, bevor der unheimliche Fremde auftauchte.
Aber die ständige Angst, die man in der Nähe des Hais verspürte, setzte ihm zu. Immer wieder spielte er mit dem Gedanken, den Krüppel an die Behörden zu verraten oder sonstwie unschädlich zu machen. Black hatte sich viel bei dem Mann abgeschaut und traute sich zu, die Geschäfte allein weiterzuführen.
Doch er wagte nicht, den letzten Schritt zu vollziehen und sich nicht nur in Gedanken, sondern durch Taten gegen den Hai zu wenden. Zu groß war Henry Blacks Angst, als Fischfutter zu enden.
Er gab sich einen Ruck und ging weiter, steuerte das Theater an. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde er nicht los.
Als er durch den mit rotem Plüsch überzogenen Sitzreihen zur Bühne ging, sang Susu Wang gerade The Girl I Left Behind Me. Das Lied, das sowohl den Soldaten des Nordens wie denen des Südens als inoffizielle Hymne galt - wenn auch jeweils mit verändertem Text -, besaß chinesisch gesungen einen besonderen Charme.
Die Leute liebten das Lied, wie sie Susu Wang und ihr EinPersonen-Stück liebten. Die bildhübsche junge Chinesin stellte eine Frau dar, die in ihrer Heimat einen Amerikaner kennenlernte, ihm nach Amerika folgte und ihn dann im Bürgerkrieg in der Schlacht verlor.
Herzzerreißend!
Niemand konnte sich das ansehen und anhören, ohne in Tränen auszubrechen. Tränen, denen immer Begeisterungsstürme folgten. Selbst dem abgebrühten Henry Black waren bei der Generalprobe zwei, drei Tropfen Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln gekullert.
Er ging um den Orchestergraben herum und wartete an der Seite der Bühne, bis die Stimme der Chinesin und die martialischsentimentalen Klänge der Musiker verklungen waren. Dann klatschte er begeistert in die Hände.
Die schlanke, für eine Chinesin recht große Frau, wandte sich ihm zu und verbeugte sich so tief, daß die kunstvoll aufgetürmten schwarzen Haare fast den Bühnenboden berührten. Ihr reich verziertes bodenlanges Seidengewand schimmerte im Licht der Scheinwerfer, das durch geschickt über der Bühne angebrachte Spiegel vervielfacht wurde.