Christbaum und Hochzeit
Fyodor Mikhailovich Dostoyevsky
(Translator: Alexander Eliasberg)
Published: 1917
Categorie(s): Fiction, Short Stories
Source: http://gutenberg.spiegel.de
Über Dostoyevsky:
Fyodor Mikhailovich Dostoevsky (November 11 [O.S. October 30] 1821 – February 9 [O.S. January 28] 1881) is considered one of two greatest prose writers of Russian literature, alongside close contemporary Leo Tolstoy. Dostoevsky's works have had a profound and lasting effect on twentieth-century thought and world literature. Dostoevsky's chief ouevre, mainly novels, explore the human psychology in the disturbing political, social and spiritual context of his 19th-century Russian society. Considered by many as a founder or precursor of 20th-century existentialism, his Notes from Underground (1864), written in the anonymous, embittered voice of the Underground Man, is considered by Walter Kaufmann as the "best overture for existentialism ever written." Source: Wikipedia
Also available on Feedbooks Dostoyevsky:
Weiße Nächte (1881)
Das schwache Herz (1917)
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Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten
Neulich sah ich eine Hochzeit … doch nein! Ich will Ihnen lieber von einer Christbaumfeier erzählen. Die Hochzeit war schön; sie gefiel mir sehr, aber die andere Feier war noch schöner. Ich weiß nicht warum, doch als ich die Hochzeit sah, mußte ich an die Christbaumfeier denken. Diese sah ich aber bei folgender Gelegenheit. Vor genau fünf Jahren war ich am Sylvesterabend zu einem Kinderball eingeladen, Der Gastgeber war ein sehr bekannter Geschäftsmann mit viel Verbindungen, Bekanntschaften und Intrigen, so daß der Kinderball wohl mehr ein Vorwand für die Eltern war, zusammenzukommen, um auf eine scheinbar harmlose und zufällige Weise von andern, wichtigeren Dingen zu sprechen. Ich war in die Gesellschaft ganz zufällig hineingeraten, hatte keinerlei Beziehungen zu den interessanten Dingen, die da besprochen wurden, und konnte daher den Abend ganz unabhängig verbringen. Da war noch ein Herr anwesend, wohl auch ein Fremder in der Gesellschaft, der gleich mir ganz zufällig zu dem Familienfeste gekommen war … Er fiel mir vor allen andern in die Augen. Es war ein schlanker, hagerer Herr, von sehr solidem Äußern und sehr anständig gekleidet. Offenbar interessierten ihn die Freuden des Festes und das Familienglück sehr wenig; sobald er in eine Ecke ging und sich unbeobachtet glaubte, hörte er sofort zu lächeln auf und zog seine schwarzen dicken Brauen zusammen. Außer den Hausherrn kannte er niemand von der Gesellschaft. Man sah ihm an, daß er sich tödlich langweilte, doch entschlossen war, die Rolle eines heiteren und fröhlichen Gastes bis ans Ende durchzuhalten. Später erfuhr ich, daß dieser Herr aus der Provinz gekommen war, um in der Hauptstadt irgendein sehr wichtiges und schwieriges Geschäft abzuwickeln, daß er einen Empfehlungsbrief an den Gastgeber mitgebracht hatte, daß dieser letztere ihn durchaus nicht con amore protegierte und ihn nur aus Höflichkeit zu seinem Kinderball geladen hatte. Karten spielte man nicht, eine Zigarre wurde ihm nicht angeboten, niemand zog ihn ins Gespräch – vielleicht weil man den Vogel gleich an den Federn erkannt hatte, und so war mein Herr genötigt, um mit seinen Händen nur etwas anzufangen, den ganzen Abend seinen Backenbart zu streicheln. Dieser Backenbart war aber wirklich außergewöhnlich schön. Doch er streichelte ihn so eifrig, daß man bei seinem Anblick entschieden denken mußte, der Backenbart sei zuerst erschaffen worden, und dann erst der Herr, nur um ihn zu streicheln.
Außer dieser Gestalt, die am Familienglück des Hausherrn (dieser hatte übrigens sechs wohlgenährte kleine Söhne) auf die angedeutete Weise teilnahm, erregte noch ein anderer Herr mein Gefallen. Dieser war ganz anders geartet. Er war nämlich eine Persönlichkeit. Man nannte ihn Julian Mastakowitsch. Beim ersten Blick konnte man erkennen, daß er hier Ehrengast war und in denselben Beziehungen zum Hausherrn stand, wie dieser letztere zu dem Herrn mit dem Backenbart. Der Herr und die Dame des Hauses sagten ihm unzählige Komplimente, machten ihm den Hof, schenkten ihm eifrig vom Besten ein und stellten ihm alle anderen Gäste vor; doch ihn selbst stellte man niemandem vor. Ich merkte, wie in die Augen des Hausherrn Freudentränen traten, als dieser Gast meinte, er hätte selten einen Abend so angenehm verbracht wie diesen. Eine solche Persönlichkeit flößt mir immer einige Angst ein, und darum zog ich mich, nachdem ich die Kindergesellschaft genügend bewundert hatte, in einen kleinen Salon zurück, der ganz leer war, und setzte mich in eine Efeulaube, welche fast die Hälfte des Zimmers einnahm.
Die Kinder waren ganz außerordentlich lieb und wollten, trotz aller Ermahnungen der Gouvernanten und Mütter, um keinen Preis den Erwachsenen gleichen. Sie plünderten in einem Augenblick den ganzen Weihnachtsbaum bis zum letzten Bonbon und zerbrachen die Hälfte der Spielsachen noch bevor sie erfahren hatten, für wen jede einzelne bestimmt war. Besonders nett war ein Knabe mit Lockenkopf und schwarzen Augen, der mich einigemal mit seinem hölzernen Gewehr erschießen wollte. Noch mehr fiel aber seine Schwester auf, ein Mädchen von etwa elf Jahren, lieblich wie ein Engel, still und verträumt, blaß, mit großen versonnenen Augen. Die andern Kinder hatten sie irgendwie beleidigt, und darum zog sie sich in den Salon zurück, wo ich saß, und begann in einem Winkel mit ihrer Puppe zu spielen. Die Gäste zeigten mit großem Respekt auf einen reichen Branntweinpächter, der ihr Vater war, und jemand bemerkte im Flüsterton, daß für sie als Mitgift bereits dreimalhunderttausend Rubel zurückgelegt seien. Ich wandte mich um, um mir die Leute anzusehen, die sich für diese Mitteilung besonders interessierten, und mein Blick fiel auf Julian Mastakowitsch, der, die Hände im Rücken und den Kopf etwas zur Seite geneigt, besonders aufmerksam dem Geschwätz der übrigen Herren lauschte. Später mußte ich die Weisheit bewundern, die der Hausherr bei der Verteilung der Geschenke an die Kinder zeigte. Das Mädchen, das bereits dreimalhunderttausend Rubel besaß, bekam eine überaus kostbare Puppe. Dann folgten im absteigenden Werte die übrigen Geschenke, je nach der absteigenden Position der Eltern dieser glücklichen Kinder. Ganz zuletzt kam ein etwa zehnjähriger, kleiner Junge, schwächlich, klein, mit Sommersprossen und rötlichem Haar, der nur einen Band Erzählungen bekam, die alle von der Erhabenheit der Natur, von Tränen der Empfindsamkeit und dergleichen handelten, doch ohne Bilder und sogar ohne Vignetten. Er war der Sohn der Gouvernante des Hauses, einer armen Witwe und schien sehr scheu und verschüchtert. Er trug ein ärmliches Jäckchen aus Nanking. Nachdem er sein Buch bekommen hatte, ging er lange um die andern Spielsachen herum: er hatte große Lust, mit den andern Kindern zu spielen, wagte es aber nicht; man sah ihm an, daß er seine Stellung im Hause durchaus begriff. Ich liebe es sehr, Kinder zu beobachten. Es ist außerordentlich interessant, wenn sich in ihnen die ersten Regungen eines selbständigen Lebens bemerkbar machen. Ich merkte, daß der rothaarige Junge von den Spielsachen der andern Kinder und besonders vom Puppentheater, in dem er irgendeine Rolle spielen wollte, so mächtig angezogen war, daß er sogar zu einem Kriecher wurde. Er lächelte den andern Kindern zu, machte ihnen den Hof, schenkte einem aufgedunsenen Bengel, der bereits einen ganzen Haufen Näschereien in seinem Taschentuch hatte, seinen Apfel und ließ sich sogar herab, einen andern Bengel Huckepack zu tragen; und alles, nur um am Theater mitspielen zu dürfen! Doch nach einigen Minuten wurde er von einem besonders frechen Jungen ordentlich verprügelt. Der arme Knabe wagte nicht zu weinen. Nun erschien die Gouvernante, seine Mutter, und sagte ihm, daß er die andern Kinder in ihrem Spiele nicht stören solle. Der Knabe ging in denselben Salon, wo schon das Mädchen saß. Sie ließ ihn zu sich heran, und beide Kinder begannen mit großem Eifer, die kostbare Puppe anzukleiden.