Archer schaute von seiner Pizza hoch, die ihm zu munden schien. »Ja, das haben Sie schon mal gesagt. Wer sind sie?«
»Ich weiß es nicht.« Tom hob die Schultern. »Aber haben Sie denn nicht das Gefühl, dass hier irgendeine Intelligenz am Werke ist?«
»Ich dachte nicht, dass wir mit unseren Vermutungen so weit gehen würden. Vielleicht haben Sie es hier nur mit besonders sauberen und ordentlichen Kakerlaken zu tun.«
»Allmählich sehe ich das etwas anders.«
»Haben Sie dafür einen speziellen Grund?«
Die Träume, dachte Tom. Die Träume, die Löcher im Hausfundament… und ein Gefühl, eine Ahnung. »Nein, es gibt keinen speziellen Grund.«
»Was Sie beschrieben haben«, sagte Archer, »lässt weniger auf eine Intelligenz schließen als vielmehr auf eine Maschine. Auf einen von diesen sturen Apparaten, die einfach weiterlaufen, während der Eigentümer Urlaub macht.«
»Wer soll denn der Eigentümer sein? Der Typ, der hier gewohnt hat — Ben Collier?«
»Warum nicht? Leider ist es unmöglich, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Er ist völlig unbekannt. Joan Flicker im Lebensmittelladen oben am Highway müsste ihn öfter gesehen haben als alle anderen, aber ich bezweifle, dass sie eine genaue Beschreibung von ihm geben kann. Er zeigte sich niemals bei öffentlichen Anlässen, lud niemanden zu sich ein, schrieb niemals irgendwelche Leserbriefe. Er sagte nicht mehr als ›Hallo‹, wenn er jemanden sah. Der Einzige, der sich an etwas Spezielles im Zusammenhang mit Ben Collier erinnern kann, ist Jered Smith, der ihm die Post gebracht hat.«
»Bekam er denn Post?«
»Laut Jered abonnierte Ben Collier jedes Magazin, jede Illustrierte, die man kriegen konnte, oder zumindest schien es so. Einige waren noch nicht einmal in Englisch. Jeden Tag brachte Jered fünf bis zehn Illustrierte und Zeitungen zu ihm. Magazine, sagt er, sind schwer — und damals war er noch zu Fuß unterwegs, allerdings bekam er im vergangenen Jahr einen Lieferwagen von der Post. Das war der erste Hinweis darauf, dass Ben Collier verschwunden war. Jered beklagte sich, dass der Stapel Magazine hoch genug war, um die Tür zu blockieren.«
»Welcher Art waren denn die Magazine?«
»Alle, von Time bis zum Manchester Guardian. Mit Schwergewicht auf dem aktuellen politischen Geschehen, aber nicht nur.«
Tom überlegte. »Es klingt ziemlich exzentrisch, aber…«
»Nein, das war nicht nur exzentrisch. Es gab ein Muster. Es war nichts Zufälliges, eher eine Art lineare Gleichung.« Tom hob skeptisch die Augenbrauen. Archer fügte hinzu: »Mathematik ist mein anderes Hobby. Den Mathematikunterricht an der Highschool habe ich niemals versäumt. Sie erinnern sich noch an Mr. Foster? Einen ziemlich großen Mann mit grauen Haaren? Er sagte, ich hätte eine Begabung dafür. Ich lese zum Beispiel regelmäßig die Rätselecke im Scientific American.«
Douglas Archer, Rechtsgelehrter und Mathematiker. Man sollte ihn nicht unterschätzen. »Das ist aber nicht viel an Hinweisen.«
»Es ist praktisch nichts. Überhaupt nichts. Sondern allenfalls interessant.« Archer schob den Teller beiseite und stand auf. »Nun, wie dem auch sei. Lassen Sie die Geräte in Ruhe, sie schalten sich selbst ein. Aber morgen früh möchten Sie sich bestimmt das Band ansehen.«
»Darauf können Sie sich verlassen. Wollen Sie nicht noch eine Tasse Kaffee trinken?«
»Ich bin fürs Kino verabredet, für die Spätvorstellung. Aber erzählen Sie mir, was zu sehen war.« Er grinste schelmisch. »Oder was nicht zu sehen war.«
Archer schloss die Tür hinter sich, und plötzlich wirkte das Haus hohl und leer.
An diesem Abend machte Tom die beunruhigende Entdeckung, dass er Angst hatte einzuschlafen.
Er duschte und schlüpfte in einen Bademantel und schaltete die Tonight-Show ein. Das Geplapper war langweilig, aber er ließ den Fernseher laufen, um den Klang menschlicher Stimmen zu hören. Genau deshalb besitzen wir alle diese Kästen, dachte er, weil sie mit uns reden, wenn niemand sonst zu Hause ist.
Aber vielleicht war der Begriff »Angst« in diesem Zusammenhang etwas übertrieben. Es war ja nicht so, dass er geradezu zitterte. Eher hatte er Hemmungen, die Augen zu schließen, wenn gerade die verrücktesten Dinge passierten. Er hatte für sich entschieden, dass hier irgendetwas vor sich ging, irgendein unterirdisches Geschehen ablief. Vielleicht war es sogar etwas, das — falls Archers historischer Überblick den Tatsachen entsprach — schon seit hundert oder noch mehr Jahren an diesem Ort stattfand. Es konnte etwas Insektenartiges sein, etwas, das im Erdboden lebte, das Löcher und geheime Verstecke bevorzugte. Er entwickelte ein Gespür, ein Bewusstsein für diese Erscheinungen, das erschreckend genau war. Die Augen, die ihn in seinen Träumen musterten, waren die Augen von… nicht von Maschinen, darin irrte Archer sich. Eher die von etwas in seiner Zielgerichtetheit Mechanischem. Es waren die Augen eines Baumeisters, eines Konstrukteurs. Aber was genau schufen diese Erscheinungen?
Nichts Gefährliches. Dessen war Tom sich einigermaßen sicher. Die Insekten in seinen Träumen waren nicht feindselig und nicht tödlich. Aber sie waren grundsätzlich und vollkommen anders, rätselhaft. Ihm war, als hätte er in einen schwarzen Tümpel gegriffen und irgendetwas berührt, das darin lebte. Einen vielfarbigen, vielgliedrigen Polypen, der so völlig anders war als er selbst, dass er durchaus von einem anderen Stern stammen konnte.
Und dann war da natürlich noch Archers Videoanlage, fast genauso fremdartig, die vor sich hinsummte. Sie hatte bislang kein Ereignis aufgezeichnet und würde es wohl auch nicht. Es war auch möglich — und dieser Gedanke beunruhigte ihn —, dass er aufwachte und die Kamera in ihre Einzelteile zerlegt vorfand, die nützlichen Teile entfernt, das Gehäuse offen und ausgeweidet auf dem Teppich.
Er raffte sich auf, zu Bett zu gehen, ehe der Nachspann der Tonight-Show ablief. Lange lag er in der Dunkelheit da und bildete sich ein, die Kamera im Zimmer nebenan schnurren zu hören. Aber das war doch wohl unmöglich, oder? Es war das Sirren und Summen seiner eigenen Nerven. Seines eigenen Bluts, das durch seine Ohren pulsierte. Er konnte nicht aufhören, diese Fragen in seinem Geist immer wieder neu zu stellen, die Fragen nach den Maschinen und der Intelligenz dahinter und dem Laut, der durchaus ein matter Hilfeschrei hätte sein können. Aber nach einiger Zeit zerstreuten seine Gedanken sich, und er schlief ein.
Eine zweite Nacht lang schlief Tom Winter völlig traumlos. Er erwachte vom Lärm des Uhrenradios, das auf einen Mittelwellensender in Seattle eingestellt war, der gerade Wettervorhersagen und Verkehrsmeldungen durch den Äther schickte. Sonnenstrahlen drangen matt durch die Vorhänge, aber er fühlte sich, als sei er gerade erst zu Bett gegangen. Nichts aus dieser Nacht war in seiner Erinnerung haften geblieben — außer, ganz vage nur, der Nachhall eines ständigen Summens. Es war ein Geräusch, wie ein im Erdreich vergrabener Dynamo es von sich geben mochte.
Das Geräusch seiner Gedanken.
Möglicherweise auch das Geräusch ihrer Gedanken.
Aber diese Vorstellung verdrängte er schnell wieder. Die Küche war auch diesmal sauber.