Выбрать главу

Der August war zu Ende gegangen. Mittlerweile war es September. Es war immer noch heiß, aber die ersten Vorboten des Winters lagen in der Luft, und in den Nächten kühlte es stärker ab.

Er holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr damit hinunter zu Brack’s Auto Body, um ihn generalüberholen zu lassen. Der Monteur nahm einen Ölwechsel vor, reinigte die Zündkerzen, stellte den Vergaser und den Choke neu ein und berechnete viel zu viel dafür. Er schob Toms Visa-Kreditkarte hin und her und fragte: »Haben Sie eine längere Reise vor?«

Tom nickte.

»Wohin soll’s denn gehen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht zurück in den Osten. Ich dachte, ich fahre einfach drauflos.«

»Machen Sie Witze?«

»Nein, es ist mein Ernst.«

»Das finde ich absolut toll«, sagte der Monteur. »So was nennt man Freiheit, nicht wahr?«

Tom nickte. »Ja, das ist Freiheit.«

Er führte zwei Telefongespräche von der Zelle vor der Werkstatt.

Zuerst rief er Tony an. Es war Samstag. Tony war zu Hause, und man hörte im Hintergrund den Fernseher laufen. Tricia schien zu weinen. Loreen versuchte sie zu trösten.

»Ich bin gerade in der Stadt«, sagte Tom. »Da dachte ich, ich sollte mich mal wieder melden.«

»Heiliger Bimbam«, sagte Tony. »Ich glaubte schon, du wärst tot, ganz bestimmt. Geht es dir gut? Was meinst du damit, du bist gerade mal wieder in der Stadt?«

»Ich kann nicht hierbleiben, Tony. Du hattest mit dem Haus ganz recht. Es war keine gute Investition.«

»Wenn du nur kurz hier bist… wohin willst du denn weiterfahren?«

Er wiederholte, was er dem Automonteur gesagt hatte, irgendwohin nach Osten.

»Das finde ich ziemlich überstürzt. Du benimmst dich wie ein Halbwüchsiger, Tom, richtig unreif. Das Leben besteht doch nicht aus ziellosem Herumgondeln.«

»Vielen Dank für den Rat. Ich werde ihn mir merken. Hör mal, ist Loreen in der Nähe?«

»Du willst sie sprechen?« Er schien überrascht zu sein.

»Ich will ihr nur Hallo sagen.«

»Na schön. Pass auf jeden Fall auf dich auf. Denk aber diesmal daran, dich zu melden. Wenn du irgendetwas brauchen solltest, Geld, zum Beispiel…«

»Danke, Tony. Das finde ich wirklich nett von dir.«

Stille, gedämpftes Murmeln im Hintergrund, dann meldete Loreen sich. »Ich bin auf der Durchreise und wollte nur ein Lebenszeichen von mir geben«, sagte Tom. »Und ich wollte mich bei euch bedanken.«

Sie unterhielten sich eine Weile. Barry hatte gerade Windpocken. Tricia bekam einen Zahn. Tom sagte, er sei herumgereist, und das wolle er noch für eine Weile tun.

»Du klingst irgendwie anders«, stellte Loreen fest.

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Als hättest du mit irgendetwas deinen Frieden gemacht.« Darauf fiel ihm keine passende Antwort ein, deshalb schwieg er. Sie fuhr fort: »Es ist eine halbe Ewigkeit her, Tom, dieser Unfall, meine ich. Als deine Mutter und dein Vater starben. Aber das Leben geht weiter, Tom. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber das weißt du selbst, glaube ich.«

Ein letzter Anruf, ein Ferngespräch nach Seattle. Er bezahlte mit seiner Kreditkarte.

Eine männliche Stimme meldete sich. »Ist Barbara zu sprechen?«, fragte Tom.

»Einen Moment bitte.« Geklapper und Murmeln. Dann ihre Stimme.

Sie sagte, sie freue sich, von ihm zu hören. Sie habe sich schon Sorgen gemacht und sei erleichtert zu erfahren, dass es ihm gutgehe. Er bedankte sich bei ihr, dass sie ihn im vergangenen Frühjahr besucht hatte. Es habe gutgetan zu wissen, dass sie sich um ihn sorge.

»Ich glaube, damit hört man nie ganz auf. Es hat mit uns beiden zwar nicht besonders gut geklappt, aber wie Hund und Katze waren wir auch nicht gerade.«

»Es war schön, solange es gut lief«, sagte Tom.

»Ja.«

»Und du bist noch immer mit Rafe zusammen?«

»Wir haben unsere Probleme, aber ja. Ich glaube, es ist eine solide Sache.«

»Es gab Zeiten, da habe ich mir so sehr gewünscht, du würdest zurückkehren, dass ich tatsächlich versucht habe, so zu tun, als gäbe es dich gar nicht mehr. Kannst du das verstehen?«

»Vollkommen«, sagte sie.

»Die Jahre, die wir hatten, waren echte Jahre.«

»Ja.«

»Gute und schlechte.«

»Ja.«

»Vielen Dank für diese Jahre«, sagte er.

»Gehst du denn wieder weg?«, wollte sie wissen.

»Ich weiß noch nicht, wohin. Ich melde mich.«

»Bitte tu das«, sagte sie.

Er verließ die Stadt auf dem Küstenhighway und fuhr bis zu der schmalen Serpentinenstraße, auf der seine Eltern ums Leben gekommen waren.

An einem Aussichtspunkt ein Stück den Highway hinauf lenkte er seinen Wagen an den Rand der Fahrbahn. Er stieg aus und setzte sich für eine Weile auf die Steinmauer, wo der Berghang zwischen Krüppelkiefern wegsackte und zum Meer hin abfiel. Er war seit dem Unfall mindestens ein Dutzend Mal an dieser Stelle vorbeigekommen, hatte aber nie angehalten, hatte sich niemals dazu durchgerungen, über das Unglück nachzudenken. Das Klopfen an der Tür, die unbegreifliche Nachricht von ihrem Tod — er hatte sich zwar immer wieder mit diesen Dingen beschäftigt, aber niemals an diesem Ort. Mit der Mythologie, aber nie mit der Tatsache als solcher. Er rief sich in Erinnerung, dass ihr Wagen an einem regnerischen Tag über die Begrenzungsmauer geschleudert worden und abgestürzt war, dass der Wagen dann auf den Felsen zerschellte. Der Krankenwagen war eingetroffen und wieder weggefahren, das Autowrack war von einem Kran hochgehievt worden und wurde abgeschleppt. Die Nacht brach herein, die Wolkendecke riss auf, Sterne erschienen am Himmel, die Sonne ging auf. Zwei Menschen waren gestorben, doch ihr Tod war ein Ereignis neben allen anderen Ereignissen ihres Lebens, nicht bedeutsamer oder unwichtiger als ihre Trauung, die Geburt ihrer Kinder, als Ehrgeiz, Enttäuschung, Liebe. Vielleicht hatte Loreen recht mit dem, was sie gesagt hatte. Es wurde Zeit, dieses Gebein der Trauer zu all den anderen Gebeinen zu legen. Es nicht zu begraben, sondern es an seinen Platz zu legen, im Gewölbe der Zeit, der unwiederbringlichen Vergangenheit, wo die Erinnerung lebte.

Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zurück nach Belltower.

Zurück zu dem entscheidenden Rätsel seines jetzigen Lebens: Joyce.

Er entdeckte sie auf der Post Road unterwegs zu dem kleinen Lebensmittelladen oben am Highway.

Er stoppte neben ihr und öffnete die Beifahrertür. Sie stieg ein.

Nach Toms Berechnung war sie im Februar dieses Jahres fünfzig geworden. Sie hatte etwas zugenommen, hatte mehr Falten im Gesicht, hatte graue Strähnen in ihrem Haar. Sie trug verwaschene Jeans, die an den Oberschenkeln etwas zu eng war, dazu ein schlichtes gelbes Sweatshirt und Turnschuhe für den langen Fußweg auf der Straße. Die Spuren der Zeit, dachte Tom. Ihre Stimme klang rauchig und etwas tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatten die Zeit oder ein unruhiges Leben das bewirkt. Ihre Augen verrieten Letzteres.

Sie musterte ihn vorsichtig. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob du zurückkommen würdest.«

»Ich mir auch nicht.«

»Hast du noch immer vor, die Stadt zu verlassen?«

Er nickte.

»Ich hatte gehofft, dass wir miteinander reden können.«

»Das können wir auch«, sagte Tom.

»Du warst nicht oft hier. Na ja, Teufel auch. Es muss für dich ein Schock sein, mich so zu sehen.«

Es stimmte, aber es klang schrecklich. Er versicherte ihr, dass sie gut aussehe. Sie sagte: »Ich sehe meinem Alter entsprechend aus, so gut oder so schlecht. Tom, ich habe diese siebenundzwanzig Jahre gelebt. Ich weiß, was ich erwarten kann, wenn ich in den Spiegel blicke. Du bist aufgewacht und hast etwas anderes erwartet.«

»Du bist weggegangen«, sagte er. »Ehe ich die Chance hatte, mich von dir zu verabschieden.«

»Ich bin verschwunden, sobald ich wusste, dass es dir gutgeht. Willst du wissen, warum?« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte in den blauen Septemberhimmel. »Ich bin weggegangen, weil ich der Verbindung zwischen uns nicht getraut habe. Ich bin weggegangen, weil ich hier keine Laune der Natur sein wollte… oder dich dort zu einer solchen machen wollte. Ich bin weggegangen, weil ich Angst hatte und nach Hause zurück wollte.

Ich bin gegangen, weil Ben mir mitteilte, der Tunnel würde in Ordnung gebracht, und die Wahl, die ich treffen würde, müsste meine letzte sein. Daher… zurück nach Manhattan, zurück ins Jahr 1962. Man denkt immer, dass man von vorne anfangen kann, aber am Ende stellt sich heraus, dass es nicht geht. Lawrence ist tot. Das hat einiges verändert. Und ich war hier gewesen, ich konnte einen Blick in die Zukunft werfen. Und selbst ein ganz winziger, kurzer Blick verändert einen. Zum Beispiel, erinnerst du dich an Jerry Soderman? Der Bücher schrieb, die niemand veröffentlichen wollte? Er machte seinen Weg als Lektor, wurde tatsächlich in den Siebzigerjahren gedruckt — literarische Romane, die kaum jemand las, aber er war richtig stolz auf sie. Zwei Monate nachdem ich zurückgekommen war, erzählt Jerry mir, dass er schwul ist; er wolle es nicht mehr verbergen, sondern ganz offen zugeben. Schön, aber der einzige Gedanke, den ich hatte, war: Hey, Jerry, ab 1976 oder so solltest du aber vorsichtig sein, was du treibst. Ich habe ihn tatsächlich in der Zeit angerufen, hatte Jahre nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich sagte, Jerry, es gibt da eine Krankheit, und ich kann dir verraten, wie du dich davor schützt. Er sagte, nein, so etwas gibt es nicht, und woher willst du das denn so genau wissen? Wie dem auch sei… Jerry ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte Tom.

»Es ist nicht deine Schuld, nicht seine Schuld und nicht meine Schuld. Der Punkt ist der, ich konnte einfach nicht zurücklassen, was mit dir und mir und diesem Ort passiert ist. Ich habe es versucht! Und wie ich es versucht habe. Ich habe jede Anstrengung unternommen, es zu vergessen, und ich habe mein Leben gelebt. Ich war fünf Jahre lang verheiratet. Ein netter Kerl, eine schlechte Ehe. Ich hab eine Zeit lang als Backup-Sängerin gearbeitet, aber das war nicht sehr schön… Dann habe ich getrunken, wodurch meine Stimme ruiniert wurde. Und, weißt du, ich bin für die Bürgerrechte, gegen den Krieg, für saubere Luft auf die Straße gegangen. Als sich alles etwas beruhigte, nahm ich einen Job als Sekretärin in einem Anwaltsbüro in der Stadt an. Acht Stunden am Tag, ein regelmäßiger Gehaltsscheck, Jahresurlaub, und ich wäre auch heute noch dort, wenn ich nicht gekündigt hätte und in den Westen gekommen wäre. Es ist schon erstaunlich. Immer wieder habe ich mir geschworen, es nicht zu tun. Was hier geschehen war, war beendet, abgeschlossen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Aber ich erinnerte mich an das Datum auf der Zeitung, die ich in deinem Garten gelesen hatte. Jeden August habe ich den Tag gefeiert, wenn man es so nennen will. Dann, in den letzten beiden Jahren, begann ich Kalender in der gleichen Weise anzustarren, wie man es mit Uhren tut. Ich verfolgte, wie das Datum immer näher rückte. Am Silvesterabend im vergangenen Winter saß ich allein zu Hause, eine einsame Frau, die auf das halbe Hundert zuging. Ich köpfte eine Flasche Champagner und sagte um Mitternacht: Scheiß drauf, ich gehe.

Ich kaufte sechs Monate im Voraus Flugtickets. Sagte Bescheid. Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffte oder erwartete, aber ich wünschte es mir so sehr. Nun, der Flug wurde verschoben. Ich bekam auf O’Hare keinen Anschluss, und ich musste die Nacht im Flughafen verbringen. Als ich nach Seattle kam, war es bereits Vormittag. Die Zeitung, es war die, an die ich mich erinnerte, lag in den Kästen. Ich mietete einen Wagen und fuhr zu schnell zur Küste hinunter. Ich hatte eine Panne und brauchte ziemlich lange, um den Reifen zu wechseln. Dann kam ich nach Belltower und konnte das Haus nicht finden. Ich konnte mich noch nicht einmal an den Namen der Straße erinnern. Ich glaube, ich erwartete, irgendwelche Schilder zu finden: BITTE HIER ENTLANG ZUR ZEITMASCHINE. Ich erkundigte mich in zwei Tankstellen, schaute auf einer Landkarte nach, bis ich glaubte, mir fielen die Augen aus dem Kopf. Schließlich machte ich an einem kleinen Imbissrestaurant halt, das auch nachts geöffnet hatte. Ich bestellte Kaffee, und als die Serviererin kam, fragte ich sie, ob sie jemanden namens Tom Winter oder Cathy Simmons kenne, und sie verneinte, sagte aber, draußen an der Post Road wohne eine Peggy Simmons und die habe wohl eine Enkelin namens Cathy, aber genau wisse sie das nicht. Ich gab ihr einen Zwanziger und kam schnellstens hierher. Erwischte diesen Kerl, der plötzlich vor meinen Scheinwerfern auftauchte, und ich konnte nicht anders, Tom… Nach all den Jahren sah er noch immer aus wie der leibhaftige Tod. Ich dachte daran, wie Lawrence in seinem billigen Sarg in irgendeiner traurigen Leichenhalle in Brooklyn lag, wo seine Eltern lebten, und es tat noch immer weh, nach all den Jahren. Daher riss ich das Lenkrad herum. Ich habe geweint, als ich ihn rammte.«

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Tom.

»Ich hab dir das Leben gerettet, bin die Straße hinuntergefahren und habe mir ein Hotelzimmer genommen und saß bis zum Mittag des nächsten Tages zitternd im Bett. Um diese Zeit war mein jüngeres Ich nach Hause gegangen.«

»Dann bist du zurückgekommen«, sagte Tom.

»Ich habe Doug und Cathy einen heillosen Schrecken eingejagt. Ben schien aber nicht sehr überrascht zu sein.«

»Du wolltest noch irgendetwas.«

»Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich glaube, ich wollte dich nur sehen. Einfach anschauen. Ergibt das irgendeinen Sinn? Fast dreißig Jahre lang habe ich immer wieder an dich gedacht. Daran, was wir waren, was wir hätten sein können. Ob ich dich wegen all dem lieben oder hassen sollte.«

Er hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. »Bist du zu einem Schluss gekommen?«

»Nein, das bin ich nicht. Es sind alles nur Erinnerungen. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.«

»Ich bin es, der sich entschuldigen sollte.«