Als Clary ihn anspuckte, stieß er ihr die Armbrust fest und schmerzhaft gegen den Brustkorb. »Dreh dich um«, knurrte er.
Clary gehorchte und taumelte benommen und mit einer Mischung aus Angst und Triumph den steinigen Hang hinunter. Durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe spürte sie jeden Kiesel und jeden Riss im Gestein. Als sie sich den Elbenlichtern näherten, konnte Clary die vor ihnen liegende Szenerie erkennen.
Der Boden stieg allmählich zu einem niedrigen Hügel an, auf dessen Kuppe ein wuchtiges, nach Norden ausgerichtetes, steinzeitliches Grabmal aufragte. Der Anblick erinnerte Clary ein wenig an Stonehenge: Ein flacher Deckstein ruhte auf mehreren aufrecht stehenden Steinblöcken, wodurch der Eindruck eines Tors entstand. Vor dem Grabmal erstreckte sich eine weitere flache Steinplatte wie eine Bühne. Und davor hatte sich eine Gruppe von etwa vierzig Nephilim im Halbkreis aufgestellt, alle in Rot gekleidet und alle mit einer Elbenlichtfackel in der Hand. Innerhalb des Halbkreises brannte ein blauweißes Pentagramm, das sich deutlich vom dunklen Untergrund abhob.
Jace stand auf der flachen Steinplatte; er trug dieselbe scharlachrote Schattenjägermontur wie Sebastian. Nie zuvor hatten sie einander ähnlicher gesehen. Clary erkannte seine leuchtenden Haare schon aus der Ferne. Er lief unruhig auf und ab und Clary konnte bereits hören, was er sagte: »… dankbar für eure Loyalität, selbst während der vergangenen, schwierigen Jahre, und dankbar für das Vertrauen, das ihr in unseren Vater gesetzt habt und nun auch in seine Söhne. Und seine Tochter.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Sebastian schob Clary durch die Dunkelheit weiter vorwärts und dann stiegen sie hinter Jace auf die Steinplatte. Jace warf ihnen einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder den rot gekleideten Nephilim zuwandte. »Ihr seid die Auserkorenen, die gerettet werden«, sagte er lächelnd. »Vor eintausend Jahren hat uns der Engel sein Blut gegeben, um uns zu etwas Außergewöhnlichem zu machen – zu wahren Kriegern. Aber das hat nicht gereicht. Inzwischen ist ein ganzes Jahrtausend vergangen und wir müssen uns noch immer in den Schatten verstecken. Wir beschützen irgendwelche unbedeutenden Irdischen vor Mächten, von denen sie nichts wissen. Und ein veraltetes Gesetz hindert uns daran, uns ihnen als ihre Retter zu offenbaren. Wir sterben zu Hunderten, ohne auch nur ein Wort der Dankbarkeit; ohne eine Träne der Trauer und ohne jede Möglichkeit, uns an den Engel wenden zu können, der uns erschuf.« Langsam trat er an den Rand der Steinplatte, näher an die noch immer im Halbkreis postierten Schattenjäger. Sein Haar leuchtete wie blasse Flammen. »Ja, ich wage es, Folgendes laut auszusprechen: Der Engel, der uns erschuf, wird uns nicht helfen – wir sind auf uns allein gestellt. Und zwar in noch stärkerem Maße als die Irdischen. Denn wie sagte einst einer ihrer bedeutendsten Gelehrten: Sie sind wie Kinder, die am Meeresrand mit Kieseln spielen, während der große Ozean der Wahrheit in seiner Unermesslichkeit unerforscht vor ihnen liegt. Doch wir kennen die Wahrheit. Wir sind die Erlöser dieser Erde und wir sollten auch über sie herrschen.«
Jace war ein guter Redner, dachte Clary mit stechendem Herzen, genau wie Valentin. Sie und Sebastian standen nun hinter ihm, die Gesichter der Ebene und der Menge zugewandt, deren Blicke sie deutlich spüren konnte.
»Ja genau – herrschen.« Jace lächelte, ein gewinnendes, freundliches Lächeln, voller Charme, aber mit einem Hauch von Härte. »Raziel ist grausam und interessiert sich nicht für unsere Probleme. Es wird Zeit, dass wir uns von ihm trennen und uns Lilith zuwenden – die Große Mutter, die uns Macht ohne Bestrafung verleihen wird und Führung ohne Gesetze. Diese Macht ist unser Geburtsrecht. Es wird Zeit, dass wir es einfordern.«
Lächelnd schaute er zur Seite, als Sebastian vortrat. »Und nun werdet ihr den Rest von Jonathan erfahren, der diesen Traum schon seit vielen Jahren verfolgt«, erklärte Jace eloquent und zog sich zurück, während Sebastian mühelos seinen Platz einnahm. Dann trat Jace einen weiteren Schritt zurück, sodass er neben Clary stand. Seine Finger tasteten nach ihrer Hand.
»Gute Rede«, murmelte Clary. Sebastian hatte sich inzwischen an die Menge gerichtet, doch Clary ignorierte ihn und konzentrierte sich stattdessen auf Jace. »Sehr überzeugend.«
»Findest du? Eigentlich wollte ich ja mit ›Freunde, Römer, Missetäter…‹ anfangen, aber dann hab ich mir gedacht, dass sie den Humor darin wahrscheinlich nicht verstehen würden.«
»Du hältst sie für Missetäter?«
»Der Rat käme bestimmt zu diesem Urteil«, erwiderte Jace achselzuckend, wandte den Blick von Sebastian ab und schaute zu Clary. »Du siehst hübsch aus«, sagte er, allerdings mit merkwürdig tonloser Stimme. »Was ist passiert?«
Diese Frage überrumpelte Clary. »Was meinst du?«
Jace öffnete seine Jacke, unter der er ein weißes Hemd trug. Das Gewebe hatte sich an den Seiten und den Ärmeln rot verfärbt. Clary bemerkte, dass er sich sorgfältig von der Menge wegdrehte, als er ihr das Blut zeigte. »Ich fühle alles, was er fühlt. Oder hast du das etwa vergessen? Ich musste mir heimlich eine Iratze auftragen, damit niemand was davon mitbekam. Es hat sich angefühlt, als würde mir jemand mit einer Rasierklinge die Haut abziehen.«
Clary blickte ihn ruhig an. Es war sinnlos, ihn anzulügen, oder? Denn für sie alle gab es kein Zurück mehr – im wahrsten Sinne des Wortes. »Sebastian und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung.«
Eindringlich musterte Jace Clarys Gesicht. »Okay«, sagte er und ließ die Jacke wieder zufallen, »ich hoffe, ihr habt das Problem aus der Welt geschafft, worum es dabei auch immer ging.«
»Jace…«, setzte Clary an, doch er hatte sich wieder auf Sebastian konzentriert. Sein Profil zeichnete sich im Mondlicht streng und klar vor dem dunklen Hintergrund ab, fast wie ein Scherenschnitt.
Vor ihnen hatte Sebastian inzwischen seine Armbrust abgestellt und hob nun theatralisch die Arme. »Steht ihr zu mir?«, rief er.
Ein Raunen ging durch die Menge und Clary versteifte sich. Einer der Nephilim, ein älterer Mann, schlug seine Kapuze zurück und knurrte mürrisch: »Dein Vater hat uns viele Versprechungen gemacht. Und keine einzige davon eingehalten. Warum sollten wir jetzt dir vertrauen?«
»Weil ich dafür sorgen werde, dass meine Versprechen erfüllt werden. Und zwar noch heute Nacht«, erwiderte Sebastian und zog den nachgemachten Engelskelch unter seiner Jacke hervor. Das Gefäß schimmerte weißlich im Mondschein.
Beim Anblick des Kelchs wurde die Menge lauter, sodass Jace leise murmelte: »Hoffentlich verläuft alles glatt. Ich hab das Gefühl, als hätte ich letzte Nacht kein Auge zugekriegt.« Sein Gesicht, das im Schein der Elbenlichtfackeln schimmerte, richtete sich gespannt auf die Nephilim und das Pentagramm.
Clary konnte die Narbe auf seiner Wange erkennen, die Vertiefungen an den Schläfen, den sanften Schwung seiner Lippen. Ich werde mich an das hier nicht erinnern, hatte er gesagt. Wenn ich mich zurückverwandelt habe… wieder unter Sebastians Kontrolle stehe, werde ich mich nicht daran erinnern können, dass ich kurzfristig wieder ich selbst gewesen bin. Und er hatte recht behalten: Jace hatte tatsächlich alles vergessen. Obwohl Clary darauf vorbereitet gewesen war und mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ihm alles entfiel, versetzte ihr die Erkenntnis dennoch einen heftigen Stich ins Herz.
Sebastian stieg nun von der Steinplatte und trat an den Rand des Pentagramms, wo er zu psalmodieren begann: »Abyssum invoco. Lilith invoco. Mater mea, invoco.« Dann zückte er einen dünnen Dolch, klemmte den Kelch in seine Armbeuge und schlitzte sich mit der Klinge die Handfläche auf. Blut quoll aus der Wunde, das im Mondschein schwarz schimmerte. Er steckte den Dolch wieder in seinen Gürtel und hielt seine blutende Hand über den Kelch, während er weiterhin auf Lateinisch sang.