Clary hatte das Gefühclass="underline" jetzt oder nie! »Jace«, wisperte sie. »Ich weiß, das hier ist nicht dein wahres Ich. Ich weiß, tief in dir drin steckt ein Teil von dir, der mit dem, was hier passiert, nicht einverstanden sein kann. Versuch, dich daran zu erinnern, wer du wirklich bist, Jace Lightwood.«
Ruckartig wandte Jace ihr den Kopf zu und musterte sie verwundert. »Wovon redest du?«
»Bitte versuch, dich zu erinnern, Jace. Ich liebe dich. Und du liebst mich…«
»Natürlich liebe ich dich, Clary«, erklärte er angespannt. »Du hast gesagt, du würdest es verstehen. Das hier ist der entscheidende Moment. Der Moment, auf den wir so lange hingearbeitet haben.«
Vor ihnen warf Sebastian den Inhalt des Kelches mit Schwung in die Mitte des Pentagramms. »Hic est enim calix sanguinis mei.«
»Nein, nicht wir«, flüsterte Clary zurück. »Ich bin nicht Teil dieser Ereignisse. Und du auch nicht…«
Jace zog scharf die Luft ein. Für einen Augenblick dachte Clary, dass sie ihn vielleicht mit ihren Worten erreicht hätte. Dass es ihr irgendwie gelungen wäre, durch seinen Panzer zu ihm durchzudringen. Doch dann folgte sie seinem Blick und sah, dass in der Mitte des Pentagramms eine wirbelnde Feuerkugel etwa von der Größe eines Baseballs erschienen war. Diese wuchs mit jeder Sekunde und veränderte ihre Gestalt, bis sich schließlich die Umrisse einer Frau herausbildeten, vollständig aus Flammen geformt.
»Lilith«, setzte Sebastian mit lauter, theatralischer Stimme an. »So wie du mich zurückgerufen hast, rufe auch ich dich in die Welt zurück. So wie du mir neues Leben gespendet hast, spende auch ich dir neues Leben.«
Langsam nahmen die Flammen einen dunkleren Ton an. Und dann stand Lilith vor ihnen: etwa halb so groß wie ein Mensch, splitternackt und mit langen schwarzen Haaren, die ihr über den Rücken fielen und bis zu den Fußknöcheln hinabreichten. Ihr Körper war aschgrau und von schwarzen Rissen durchzogen wie erkaltende Lava. Sie heftete ihre Augen, in deren Höhlen schwarze Schlangen wimmelten, auf Sebastian. »Mein Kind«, hauchte sie.
Sebastian schien innerlich zu glühen wie ein Elbenlichtstein – leuchtend blasse Haut und helle Haare. Nur seine Kleindung wirkte im Mondlicht schwarz. »Mutter, ich habe dich heraufbeschworen, so wie du es von mir verlangt hast. Aber heute Nacht wirst du nicht nur einfach meine Mutter sein, sondern die Mutter einer vollkommen neuen Rasse.« Er deutete auf die Schattenjäger, die reglos dastanden – vermutlich vor Schock. Es war eine Sache, auf das Erscheinen eines Dämonenfürsten zu warten, aber etwas völlig anderes, einen solchen Dämon leibhaftig zu sehen. »Der Kelch«, sagte Sebastian laut und hielt Lilith das Gefäß entgegen, dessen heller Rand mit seinem Blut verschmiert war.
Lilith lachte in sich hinein; das Geräusch klang wie das Knirschen schwerer Steine. Dann nahm sie den Kelch – und im nächsten Moment schlug sie mit ihren Zähnen eine klaffende Wunde in ihr aschgraues Handgelenk, so beiläufig, als würde sie ein Insekt von einem Blatt heben. Langsam sickerte zähflüssiges schwarzes Blut aus der Wunde hervor und klatschte in den Kelch, der unter ihrer Berührung die Farbe zu ändern schien – das helle, transparente Material hatte eine trübe Tönung angenommen. »So wie der Engelskelch den Nephilim Talisman und Mittel zur Transformation zugleich gewesen ist, so soll dieser Höllenkelch euch dienen«, fauchte sie mit ihrer rauchigen Stimme. Dann kniete sie nieder und hielt Sebastian den Kelch entgegen. »Dies ist mein Blut – nehmet und trinket davon.«
Sebastian legte die Hände um den Kelch und hob ihn hoch. Inzwischen hatte sich das Gefäß vollständig in ein schimmerndes Schwarz verfärbt.
»In dem Maße, in dem deine Armee wächst, in dem Maße wird auch meine Kraft zurückkehren«, zischelte Lilith. »Bald werde ich stark genug sein, um leibhaftig zurückzukehren, und dann werden wir das Feuer der Macht teilen, mein Sohn.«
Langsam neigte Sebastian den Kopf. »Deinen Tod, o Mutter, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir.«
Lilith lachte und hob die Arme. Flammen züngelten über ihren Körper und sie schwang sich in die Lüfte und explodierte in einem Dutzend wirbelnder Lichträder, die wie die Glut eines verlöschenden Feuers verblassten. Als der letzte Funke verschwunden war, zerstörte Sebastian mit dem Fuß den Rand des Pentagramms und hob dann den Kopf. Ein Furcht einflößendes Lächeln lag auf seinen Zügen.
»Cartwright«, befahl er. »Bring mir den Ersten.«
Die Menge teilte sich und ein Mann in einer Robe drängte nach vorn, eine taumelnde Frau an seiner Seite. Sie war mit einer Kette an ihn gefesselt und ihre langen, verfilzten Haare verdeckten ihr Gesicht.
Clary versteifte sich. »Jace, was soll das? Was passiert hier?«
»Nichts, nichts«, erwiderte er geistesabwesend und schaute gebannt auf die Geschehnisse. »Es wird niemand verletzt. Nur verwandelt. Sieh einfach zu.«
Cartwright, an dessen Namen sich Clary vage aus ihrer Zeit in Idris erinnerte, drückte der Gefangenen die Hand auf den Schädel und zwang sie auf die Knie. Dann packte er sie an den Haaren und riss ihren Kopf nach hinten. Die Frau starrte Sebastian an, mit einer Mischung aus Angst und Trotz. Im Schein des Monds war ihr Gesicht nun deutlich zu sehen.
Bestürzt schnappte Clary nach Luft. »Amatis.«
21
Die Macht der Hölle
Lukes Schwester schaute auf und heftete ihre blauen Augen, die denen ihres Bruders so sehr ähnelten, fest auf Clary. Amatis wirkte benommen, geschockt und verwirrt, als hätte man ihr Drogen verabreicht. Sie versuchte, sich aufzurappeln, aber Cartwright stieß sie wieder auf den Boden, während Sebastian zu den beiden hinüberging, den Kelch in den Händen.
Clary wollte zu Amatis stürmen, doch Jace bekam sie am Arm zu fassen und zog sie zurück. Wütend versuchte Clary, nach ihm zu treten, aber er hatte bereits seine Arme um sie geschlungen und ihr eine Hand auf den Mund gepresst.
Sebastian redete leise und hypnotisch auf Amatis ein, woraufhin sie heftig den Kopf schüttelte. Doch Cartwright packte sie erneut an ihren langen Haaren und riss ihren Kopf zurück. Clary hörte, wie Amatis aufschrie – ein dünnes Heulen über dem Brausen des Windes.
Clary musste an jene Nacht denken, in der sie neben Jace gelegen und beobachtet hatte, wie sich sein Brustkorb ruhig hob und senkte. Wie sie überlegt hatte, dass sie alles mit einem einzigen Messerstich beenden könnte. Damals hatte diese Idee kein Gesicht, keine Stimme, keinen konkreten Plan gehabt. Doch nun, da die Geschichte das Gesicht von Lukes Schwester bekommen hatte und Clary den Plan kannte, war es zu spät.
Sebastian hatte eine Hand in Amatis’ Haare gekrallt und presste ihr den Kelch an die Lippen. Als er sie zum Trinken zwang, würgte und hustete sie und schwarze Flüssigkeit lief an ihrem Kinn herab. Dann riss Sebastian den Kelch zurück, dessen Inhalt bereits seine Wirkung zeigte: Amatis röchelte grauenhaft, ihr ganzer Körper fuhr in die Höhe und versteifte sich. Ihre Augen traten aus den Höhlen und verfärbten sich durchgehend schwarz, genau wie bei Sebastian. Sie schlug die Hände vors Gesicht, stieß ein gequältes Heulen aus – und dann sah Clary voller Entsetzen, wie die Voyance-Rune auf ihrer Hand erst verblasste und schließlich vollständig verschwand.
Amatis ließ die Hände herabsinken. Ihre Züge wirkten nun ruhig und sie richtete ihre Augen, die wieder blau waren, auf Sebastian.
»Mach sie los«, befahl Clarys Bruder dem Schattenjäger, den Blick weiterhin auf Amatis fixiert. »Lass sie zu mir kommen.«
Cartwright löste die Kette, die Amatis an ihn fesselte, und trat zurück, eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination auf dem Gesicht.
Einen Augenblick lang verharrte Amatis reglos; ihre Arme hingen schlaff an ihrem Körper herab. Dann stand sie auf, ging zu Sebastian und kniete vor ihm nieder, wobei ihre Haare durch den Staub streiften. »Gebieter«, sagte sie, »wie kann ich Euch dienen?«