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»Erhebe dich«, befahl Sebastian.

Amatis richtete sich anmutig auf. Sie schien sich plötzlich ganz anders zu bewegen. Natürlich zeichneten sich alle Schattenjäger durch geschickte, gewandte Bewegungen aus, doch Amatis’ Körperhaltung strahlte nun eine lautlose Agilität aus, was Clary einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Amatis stand kerzengerade vor Sebastian und Clary erkannte, dass es sich bei ihrem Gewand, das sie für ein langes weißes Kleid gehalten hatte, in Wahrheit um ein Nachthemd handelte – als hätte man Amatis mitten in der Nacht aus ihrem Bett gezerrt. Was für ein Albtraum, nun hier aufzuwachen, inmitten maskierter Gestalten, an diesem finsteren, gottverlassenen Ort.

»Komm näher«, befahl Sebastian und winkte sie mit einer Handbewegung heran.

Amatis trat noch einen Schritt vor. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als Clarys Bruder und musste sich etwas recken, während er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Dann breitete sich ein kaltes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Sebastian hob eine Hand. »Würdest du gern gegen Cartwright kämpfen?«

Cartwright – ein junger Mann mit hellem Haar und einem breiten, kantigen Gesicht – ließ die Kette fallen, die er noch immer festgehalten hatte, und seine Hand zuckte zu seinem Waffengürtel unter dem Umhang. »Aber ich…«

»Eine kleine Demonstration ihrer Kräfte wäre jetzt sicherlich angebracht«, bemerkte Sebastian. »Komm schon, Cartwright, sie ist doch nur eine Frau und älter als du. Oder hast du etwa Angst?«

Cartwright wirkte bestürzt, zückte aber dennoch einen langen Dolch. »Jonathan…«

In dem Moment blitzten Sebastians Augen auf. »Er gehört dir, Amatis!«

Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte sie und sprang. Mit verblüffender Geschwindigkeit hechtete sie hoch in die Luft, stieß den Fuß vor und trat dem verwirrten Schattenjäger den Dolch aus der Hand. Verwundert beobachtete Clary, wie Amatis an Cartwrights Körper hochschnellte und ihm das Knie in den Magen rammte. Als er rückwärtstaumelte, verpasste sie ihm einen Kopfstoß, wirbelte um ihn herum, packte ihn am Rücken seiner Robe und riss ihn zu Boden. Mit einem grässlichen, knackenden Geräusch landete er vor ihren Füßen und stöhnte vor Schmerz.

»Das war dafür, dass du mich mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt hast«, knurrte Amatis und wischte sich mit dem Handrücken über die leicht blutende Lippe. Ein nervöses Lachen ging durch die Menge.

»Jetzt habt ihr es mit eigenen Augen gesehen«, rief Sebastian. »Selbst eine Nephilim ohne besondere Fähigkeiten oder Kräfte – nichts für ungut, Amatis – kann stärker und geschickter werden als ihr mit seraphischen Kräften ausgestattetes Gegenüber.« Theatralisch schlug er sich die rechte Faust in die linke Hand. »Macht. Echte Macht. Wer ist dazu bereit?«

Die Schattenjäger zögerten einen Moment, doch dann rappelte Cartwright sich auf, eine Hand schützend auf seinen Magen gepresst. »Ich! Ich bin dazu bereit«, sagte er und warf Amatis einen giftigen Blick zu, die jedoch nur kalt lächelte.

Sebastian hielt den Höllenkelch in die Höhe. »Dann tritt vor.«

Cartwright ging auf Sebastian zu, während hinter ihm die anderen Schattenjäger aus ihrer Erstarrung erwachten. Sie folgten Cartwright und stellten sich hinter ihm in einer lockeren Reihe auf. Amatis stand gelassen daneben, die Hände vor dem Körper verschränkt.

Clary starrte sie an und versuchte, die ältere Frau dazu zu bewegen, in ihre Richtung zu schauen. Amatis war Lukes Schwester – wenn sich die Dinge wie geplant entwickelt hätten, dann wäre sie inzwischen Clarys Stieftante.

Amatis. Clary erinnerte sich an das schmale Kanalhaus in Idris und daran, wie freundlich Amatis zu ihr gewesen war und wie sehr sie Jace’ Vater geliebt hatte. Bitte sieh mich an, dachte Clary. Bitte zeig mir, dass du noch immer du selbst bist.

In dem Moment hob Amatis den Kopf, als hätte sie Clarys stummes Flehen gehört, und blickte sie direkt an. Dann schenkte sie ihr ein Lächeln – allerdings kein freundliches oder aufmunterndes, sondern ein finsteres, kaltes und leicht belustigtes Lächeln. Das Lächeln eines Menschen, der zusah, wie jemand anderes ertrank, und nicht einen Finger zu dessen Rettung krümmte, dachte Clary. Das hier war nicht Amatis’ Lächeln, denn das hier war nicht Amatis – Amatis existierte nicht mehr.

Inzwischen hatte Jace die Hand von Clarys Mund genommen, aber sie verspürte nicht länger das Bedürfnis zu schreien. Niemand würde ihr hier zu Hilfe kommen und die Person, die die Arme um sie geschlungen hatte und sie wie in einem Schraubstock festhielt, war nicht Jace. So wie Kleidungsstücke selbst nach Jahren noch die Konturen ihres ehemaligen Besitzers beibehielten oder ein Kissen den Abdruck der Person, deren Kopf einst darauf gelegen hatte, genau so war auch dieser Jace. Er war eine leere Hülle, die sie mit ihren Wünschen, ihrer Liebe und ihren Träumen ausgestopft hatte.

Damit hatte sie dem echten Jace ein schreckliches Unrecht zugefügt. In ihrem Bestreben, ihn zu retten, hatte sie fast vergessen, wen sie hier eigentlich rettete. Sie erinnerte sich wieder an seine Worte, als er für kurze Zeit er selbst gewesen war: Ich hasse die Vorstellung, dass er mit dir zusammen ist. Er. Dieser andere Teil von mir. Jace hatte gewusst, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelte – dass er ohne seine Seele nicht mehr er selbst war.

Er hatte versucht, sich dem Rat zu stellen, aber sie hatte ihn daran gehindert. Sie hatte nicht auf seinen eigenen Wunsch gehört, sondern diese Entscheidung für ihn getroffen – zwar in blinder Panik, aber sie hatte sie einfach an seiner Stelle gefällt. Dabei war ihr nicht bewusst gewesen, dass ihr Jace lieber sterben würde, als so weiterzuleben, und dass sie ihm nicht das Leben gerettet, sondern ihn zu einem Dasein verdammt hatte, das er verabscheute.

Resigniert ließ Clary sich gegen Jace sinken, der ihre plötzlich veränderte Körperhaltung als Zeichen dafür wertete, dass sie sich ihm nicht länger widersetzte, und seinen Griff etwas lockerte. Mittlerweile stand der letzte der rot gekleideten Schattenjäger vor Sebastian und streckte begierig die Hände nach dem Höllenkelch aus.

»Clary…«, setzte Jace an.

Doch Clary sollte nicht mehr herausfinden, was er hatte sagen wollen. Denn im nächsten Augenblick ertönte ein Schrei und der Schattenjäger, der den Kelch entgegennehmen wollte, taumelte zurück, mit einem Pfeil im Hals. Ungläubig riss Clary den Kopf herum und entdeckte Alec, der in Kampfmontur und mit dem Bogen in der Hand auf dem Deckstein des Grabmals stand. Er grinste zufrieden und griff sich über die Schulter, um den nächsten Pfeil aus dem Köcher zu ziehen.

Und dann tauchten hinter ihm die anderen auf: Ein Rudel Wölfe lief geduckt über die Ebene; ihr scheckiges Fell glänzte im Schein des Monds. Clary vermutete, dass sich auch Maia und Jordan unter ihnen befanden. Nach ihnen trat eine Reihe vertrauter Nephilim durch das Portaclass="underline" Isabelle und Maryse Lightwood, Helen Blackthorn und Aline Penhallow sowie Jocelyn, deren rotes Haar selbst aus der Entfernung deutlich zu erkennen war. Neben ihnen tauchte Simon auf, hinter dessen Schulter das Heft eines silbern schimmernden Schwerts aufragte, und schließlich Magnus, dessen Hände knisternde blaue Flammen versprühten.

Clarys Herz machte vor Erleichterung einen Satz. »Ich bin hier!«, rief sie ihnen zu. »Ich bin hier drüben!«

»Kannst du sie sehen?«, fragte Jocelyn unruhig. »Ist sie irgendwo in der Menge?«

Simon versuchte, sich auf das Gewimmel in der Dunkelheit vor ihm zu konzentrieren. Der deutliche Geruch von Blut stimulierte seine Vampirsinne so sehr, dass er sogar unterschiedliche Blutsorten erkennen konnte – Schattenjägerblut, Dämonenblut und die bittere Note von Sebastians Blut. »Ja, ich sehe sie«, bestätigte er. »Jace hält sie fest. Er zieht sie hinter die Linien der Schattenjäger.«